Eine naechtliche Begegnung
Lady schon einmal gesehen, auf einer Fotografie in einem Schaufenster.
Der Salon der Allentons war mit Kerzen beleuchtet. Von der hohen Decke blickten rosige griechische Götter hinab auf die Gäste, die in Samt und Seide glänzten. Der Goldbrokat der Damastpolster glitzerte im gedämpften, unsteten Licht, Juwelen blitzten an Hälsen und Handgelenken. Ein süßer, dezenter Duft lag in der Luft. Die sanften Klänge eines hinter ein paar Farnen verborgenen Geigers wetteiferten mit dem angenehmen, gleichmäßigen Murmeln der Konversation.
Nell zog sich der Magen zusammen, und sie blieb zögernd an der Schwelle stehen. Das war der perfekte Traum von Reichtum. Luxus, Lächeln und leises, dezentes Lachen von rechts und links. Diese Leute hatten absolut keine Ahnung, dass sie gleich ein Fabrikmädchen kennenlernen und sogar vor ihr knicksen würden.
Simon beugte sich zu ihr. »Dies ist dein Platz«, murmelte er.
Sie zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. »Ich bin nicht nervös«, log sie. Sie war kein Feigling. Mit einem tiefen Atemzug ging sie über die Schwelle.
»Lord Rushden!«
Sanft lenkte Simon sie ihrer Gastgeberin entgegen, einer kleinen und molligen älteren Dame mit kastanienbraunem Haar und den unscheinbaren, aber angenehmen Gesichtszügen einer Madonna.
Sobald die Frau Nell erblickte, verschwand ihr gelassenes Lächeln. »Ich …« Lady Allenton straffte sich und sah rasch von einem zum andern. »Lady Katherine, guten Abend.«
»Oh, ich fürchte, das ist ein Missverständnis«, sagte Simon höflich. »Lady Rushden, darf ich Ihnen Lady Richard Allenton vorstellen? Lady Allenton, meine Frau, die Countess of Rushden.«
Als Nell ihr Stichwort hörte, sah sie ihren Arm wie den eines aufgezogenen Roboters nach vorn schießen. Harmonisches Gleichgewicht, tadelte Mrs Hemple mit unhörbarer Stimme.
Aber ihre Gastgeberin war zu verdutzt, um auf die Feinheiten ihres Auftritts zu achten. »Mein Gott«, sagte die Lady. Helles Rot erblühte auf ihren Wangen, als sie Nells Hand ergriff. Sie drückte sie leicht und ging etwas in die Knie.
Da: der erste Knicks. Er löste eine ansteigende Welle von Heiterkeit in Nell aus. Jemand mit dem Namenszusatz Lady hatte vor ihr geknickst.
Simon stupste sie unmerklich mit der Schulter an. Ach ja. Nell befeuchtete ihre Lippen. »Wie geht es Ihnen?«, sagte sie.
»Sehr gut«, antwortete Lady Allenton atemlos. »Ich hatte ja keine Ahnung – ich meine, ich wünsche dir alles Gute, Kitty.« Sie presste die Lippen aufeinander und korrigierte sich: »Lady Rushden.«
Nell stockte der Atem. »Lady Allenton«, sagte Simon sanft. »Ich fürchte, Sie verwechseln meine Frau mit ihrer Schwester.«
Die Lady klammerte sich kurz an Nells Hand fest und ließ sie dann genauso schnell wieder los. Mit riesigen Augen trat sie einen Schritt zurück. »Ich …« Sie schluckte. Schüttelte den Kopf. Dann ließ sie ein kleines Lachen hören. »Habe ich mich verhört? Ich verstehe nicht ganz …«
»Vergeben Sie mir«, sagte Simon, »dass ich Ihnen die Neuigkeit so unvermittelt eröffne.«
Nell wagte einen Seitenblick zu ihm. Simon sah sie an, in den Mundwinkeln den Hauch eines Lächelns. Er sah verdammt lustig aus. Sie versuchte, das Lächeln zu erwidern, aber ihre Lippen gehorchten ihr nicht.
»Nun!« Lady Allenton schüttelte noch einmal den Kopf und verstummte dann, die Augen aufgerissen wie ein Pfaffe im Angesicht des Teufels. In der Halsmulde schlug sichtlich ein Puls. Würde sie sie hinauswerfen? Würde sie die Polizei rufen? Würde sie … »Du kluger und ungezogener Junge«, sagte sie und sah Simon amüsiert an.
Nell atmete aus. Simons Grübchen kamen zum Vorschein. »Was soll ich sagen?«, gab er zurück.
»Ich kann es mir nicht einmal ansatzweise vorstellen.« Lady Allenton richtete ihren Blick wieder auf Nell. »Ich … welche Freude! Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht …« Ihre Worte wurden schneller, stolperten hastig übereinander. »Ich kannte natürlich Ihre Mutter, aber Sie waren noch so klein, nein, Sie erinnern sich sicher nicht, aber danach waren wir am Boden zerstört, so ohne Hoffnung …« Plötzlich biss sie sich auf die Lippen, aber ihr fragender Blick wanderte noch immer über Nells Gesicht. »Ich muss Sie einfach fragen«, brach es aus ihr hervor. »Wo haben Sie nur die ganze Zeit gesteckt?«
»Da bist du ja!« Ein draller, rothaariger Mann tauchte neben Simon auf und schlug ihm auf die Schulter. Er warf der erstarrten Gastgeberin einen komischen Blick zu und
Weitere Kostenlose Bücher