Eine naechtliche Begegnung
ging: Er stieß sich vom Geländer ab und landete vor der Treppe auf den Füßen.
Er drehte sich um. Nell stand oben an der Treppe, die Hände vor den Mund geschlagen.
»Anmutig wie der Wind«, rief er zu ihr hoch.
Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Wohl eher wie ein Irrenhäusler!«
»Und du bist eine Angeberin. Nur leeres Gerede. Nichts dahinter.«
Er sah selbst aus der Entfernung, wie sie plötzlich ihr Kinn vorschob. Wieder musste er lachen, als sie zum Geländer stakste, ihre Bewegungen abgehackt vor Wut.
Aber sie konnte sich nicht mit der gleichen Leichtigkeit auf das Geländer setzen wie er. Natürlich. Die Röcke waren ihr hinderlich.
Sorge überschattete seine Heiterkeit. »Tu es nicht«, sagte er. »Es war nur Spaß. Du hast nicht die richtigen Kleider an, um …«
Nell setzte sich in Bewegung.
Er wollte die Treppen hinaufrennen, aber sie war zu schnell. Die Wahrscheinlichkeit, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, war genauso hoch, wie sie abzufangen. Fieberhaft überlegte er, wo er sich am besten hinstellen müsste, um den Sturz zu dämpfen, falls sie fallen sollte.
Aber sie jauchzte. »Ich komme!«, rief sie, und er wusste, dass sie es schaffen würde.
Jetzt lachte er auch – vor Erleichterung und Freude zugleich – und trat zurück, um ihr Platz für die Landung zu machen.
Sie landete mit einer fast perfekten Bewegung auf den Füßen. Nur hatte sie noch solchen Schwung, dass sie direkt in seine Arme taumelte.
Doch, dachte er, insgesamt eine perfekte Landung.
Sie atmete heftig, ihr Gesicht war erhitzt, und ihre Augen funkelten. »Ich hab’s ja gesagt«, grinste sie. »Ich wäre davongekommen.«
»Und ich hätte dich trotzdem erwischt.« Als er die Aufmerksamkeit auf ihren Mund konzentrierte, erinnerte er sich mit freudigem Erschrecken, dass sie verheiratet waren. In diesem Haus konnte er sie überall küssen, wo er wollte.
Er beugte sich zu ihr hinab. Ihre Pupillen weiteten sich, und während sie sich auf die Zehenspitzen stellte, legte sie die weichen Hände auf seine Ellbogen und zog ihn näher zu sich heran. Ihre Lippen berührten sich, eine warme Erinnerung, zu süß, um nicht das Vorspiel zu etwas mehr zu sein.
»Nach oben«, murmelte er in ihren Mund und spürte ihr lautloses Lachen warm an seinen Lippen. Er drehte sie herum und schob sie die Treppen wieder hinauf, als hinter ihm ein dezidiertes Räuspern ertönte.
Hemple. Verdammt sei diese Frau. An jedem anderen Tag hätte Simon sie ignoriert, aber heute nicht. Seufzend verlagerte er die Hand von Nells Hüften an den schicklicheren Platz auf ihrem muskulösen Oberarm. »Mrs Hemple«, sagte er. Die Lehrerin war rosa angelaufen. »Gerade habe ich Ihren Schützling für Sie geholt.«
»Was für ein Zufall«, sagte die alte Dame und starrte angestrengt zwischen ihnen hindurch. »Es ist ein wichtiger Tag für Ihre Ladyschaft. Ein wirklich bedeutender Tag. Wir dürfen keine Minute verlieren.«
Er spürte die Anspannung seiner Frau. »Was ist denn heute?«, fragte Nell.
Verdammt, hatte er etwa vergessen, es ihr zu sagen? Er ergriff ihre Hand und küsste sie entschuldigend. »Heute«, sagte er, »wirst du in die Gesellschaft eingeführt.«
Nell ging wie betrunken durch den Tag. Sie konnte nur an Simon denken. Hemple prüfte sie auf Herz und Nieren und verlangte, dass sie alle möglichen Situationen durchspielte – wie man sich verhielt, wenn man einer anderen Countess vorgestellt wurde (einer
anderen
Countess!), einer Marquise, einer Prinzessin oder einem elenden Baron, der kaum einen Knicks verdiente. (Was für eine unglaubliche Vorstellung! Ein paar der erlauchten Herrschaften hatten einen niedrigeren Rang als sie!) Nell knickste wie ihr geheißen, ihr Körper nahm das alles kaum wahr. Er schien nicht mehr ihr zu gehören. Allein beim Gedanken an ihren Mann begann er zu pulsieren.
Sich für eine Gesellschaft anzuziehen war keine geringe Aufgabe. Es begann direkt nach einem späten Tee, als Sylvie, nervös wie ein umherflatternder Vogel, sie nach oben zog, um ein Kleid auszusuchen. Offensichtlich hatte Simon sie mit der Aussage in Aufregung versetzt, dass es sich um eine kleine, aber sehr exklusive Party handelte.
Exklusiv
war das Wort, das Sylvie beunruhigte. Das rosa-violette Satinkleid war raffiniert, aber die Volants waren zu frech, um elegant zu sein, wandte sie ein. Das aus saphirblauem Samt würde im elektrischen Licht bei den Allentons entsetzlich aussehen, man sollte es besser für Gaslicht zurücklegen. Das
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