Eine naechtliche Begegnung
aus Holz und Saffianleder, die Steinbüsten mit ihren arroganten Nasen: All das war ihr plötzlich fremd. Hatte nichts mit ihr zu tun. Nell bekam keine Luft, sie keuchte wie ein bedrängtes, in die Enge getriebenes Tier.
Die Ehe lösen.
Diese Zeremonie – sie hatte befürchtet, dass der Geistliche ein Betrüger war. Dabei war es der Bräutigam gewesen, der sie betrogen hatte. Die ganze Zeit hatte Simon gewusst, dass die Ehe annulliert werden konnte.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie die Empfangshalle durchquerte. Wo wollte sie hin?
Närrin
, klickten ihre Schritte, als sie über das Schachbrettmuster der Fliesen ging.
Närrin, Närrin, Närrin.
Die Treppe. Sie legte die Hand auf das Geländer. Die ganze Zeit hatte er vorgehabt, sie einfach abzuschieben, wenn man sie als Betrügerin verurteilte.
Mein Gott
, dachte sie. Die Stufen türmten sich wie ein endloser Aufstieg vor ihr auf. Ihre Knochen fühlten sich brüchig und verrostet an, ihre Gelenke schmerzten.
Alles tut weh
.
Langsam ging sie hinauf. Zu langsam: Das Gespräch war rasch beendet worden, jetzt standen Simon und Daughtry unten in der Halle und hatten sie entdeckt. Sie hörte Simon nach ihr rufen. Es kostete sie ihre ganze Kraft, die Hand auf dem Geländer liegen zu lassen und weiterzugehen. Sie durfte nicht stehen bleiben. Ihr ganzer Körper pochte, als hätte jemand sie gegen eine Wand geschleudert. Warum tat alles so weh? Das Geländer war so glatt, er war lachend wie ein kleiner Junge hinuntergerutscht, sorglos, seine Lügen hatten ihn nicht beunruhigt. Nell hatte es ihm gleichgetan und war so glücklich gewesen, dass es sich angefühlt hatte wie fliegen.
Dieses verdammte Haus! Schon in der ersten Nacht hatte sie gewusst, dass es sie umbringen würde.
Dann plötzlich kamen die Tränen, eine heiße, kummervolle Flut, die langsam und stetig aus ihr herausleckte. Sie riss sich zusammen. Was war sie nur für ein Dummkopf, kein Blick für die Realität, nur alberne Hoffnungen. Sie hatte ihrer Mum getraut. Sie hatte ihm getraut. Inzwischen war wohl klar, dass sie nicht einmal mehr sich selbst trauen konnte.
Guter Gott. Und sie hatte ihn ins East End mitnehmen wollen, um ihre letzten Zweifel zu zerstreuen! Ein fremdartiges Lachen kam aus ihrer Kehle.
»Nell.« Simon legte ihr fest und erschreckend warm den Arm um die Taille. Jetzt, da er sie eingefangen und ihren Schwung unterbrochen hatte, konnte sie nur noch starr stehen bleiben. Sie wankte leicht, als er sie zu sich umdrehte.
Simon sah ihr ins Gesicht und wurde blass. »Was ist?«
Langsam befeuchtete Nell die Lippen.
Ich habe dich gehört
.
Aber obwohl sich die Lippen bewegen, kam kein Ton heraus. Ein Instinkt ermahnte sie, besser still zu sein. Er konnte sich ihrer entledigen, wann immer er wollte. Besser verärgerte sie ihn nicht.
Mein Gott
, dachte sie.
Schon wieder muss ich einen Herrn bei Laune halten, um nicht auf der Straße zu landen.
Sein Griff wurde fester. »Bist du in Ordnung? Was ist passiert?« Er sah an ihr hinunter, aber ihr Körper zeigte natürlich keine Verletzungen. Ihr Inneres war in Fetzen gerissen, aber äußerlich war nichts zu sehen.
Sein Blick fiel auf den Brief. Er nahm ihn ihr aus der Hand und las ihn rasch, bevor er aufsah. »Ist etwas mit Hannah? Ich verstehe nicht. Dass sie deinen Stiefbruder erwähnt, verheißt nichts Gutes, aber der Brief scheint doch gefasst …«
Gott mochte ihr vergeben, dass sie aus Angst vor seinem Urteil Bedenken gehabt hatte, Hannahs Einladung anzunehmen. Hannah war zehn Mal so viel wert wie er. Hannah hatte ihr immer zur Seite gestanden, während er von Anfang an geplant hatte, sie zu verlassen, wenn nicht alles so lief wie vorgesehen.
Sie sah die Verwirrung in seinem Gesicht und spürte hämische, schreckliche Freude, der Grund dafür zu sein. Wie leicht war ihm das Leben gemacht worden. Er hatte die ganze Zeit geplant, sie beiseitezuschaffen, wenn es ihretwegen schwierig werden würde.
Sie war ihm keine Erklärung schuldig. Gar nichts war sie ihm schuldig. Sie ertrug es nicht, ihn jetzt anzusehen, geschweige denn, mit ihm zu sprechen.
»Ich fahre zu ihr«, sagte Nell zu der Luft über Simons Schulter. Ihre Stimme gehörte nicht ihr. Leise und erstickt. Warum tat es so weh? Wenn sie ihr Herz verloren hatte, würde sie es sich zurückholen. Sie würde nicht zulassen, dass man sie so sehr verletzte.
»Natürlich«, sagte er. »Ich werde die Kutsche vorfahren lassen. Warte hier.«
Wie aus großer Entfernung sah sie zu, wie er
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