Eine naechtliche Begegnung
sich umdrehte und die Treppen wieder hinunterstieg, athletisch und so verdammt besorgt. Er wusste immer, welches Gesicht er aufsetzen musste, mit welchem Verhalten er ein Mädchen einwickeln konnte. Aber es war eine fadenscheinige Maske, denn sie bedeckte das Gesicht eines Lügners.
Warum nur hatte er sie angelogen? Sie hatten nur wegen der Aussicht auf ein Vermögen geheiratet. Er hätte ihr sagen können, dass er die Ehe lösen wollte, falls sie nicht als Cornelia Aubyn durchging. Nichts hätte er durch Ehrlichkeit verloren.
Sie legte sich die Faust auf die Brust, wo ein schweres Gewicht sie langsam zu erdrücken schien. Was hatte er von seiner Lüge gehabt?
Hätte er ihr die Wahrheit gesagt, wäre sie niemals mit ihm ins Bett gegangen.
Wenn sie gewusst hätte, dass man die Ehe annullieren konnte, hätte sie niemals riskiert, von ihm schwanger zu werden.
Nell schluckte schwer und unterdrückte den Impuls, sich zu übergeben. Oh Gott, sie durfte nicht schwanger sein. Sie durfte nicht noch eine Kreatur in die Welt setzen, die nach den Launen eines reichen Mannes tanzen und zittern musste!
»In Ordnung«, rief er und stieg wieder zu ihr hinauf. »Fünf Minuten«, fügte er hinzu.
Ihr träges Hirn registrierte, dass er sich Handschuhe anzog. »Du kommst mit?«
Er sah sie überrascht an. »Natürlich«, sagte er. »Ich würde dich nicht allein fahren lassen.«
»Natürlich«, echote sie. Klar, er wusste, wie man den aufmerksamen Ehemann spielte. Er war gut darin, den Schein zu wahren. Und warum auch nicht? Er befahl der Welt, sich nach seinen Wünschen zu richten. Er log, wann es ihm passte, und sie hatte ihn immer nur selbstbewusst gesehen.
Aber nicht in Bethnal Green. Das war ihre Welt. Dort würde er sich unbehaglich fühlen. »Gut«, sagte sie.
Irgendetwas im Klang ihrer Stimme brachte ihn dazu, die Stirn zu runzeln. »Machst du dir Sorgen, weil sie Michael erwähnt? Du brauchst keine Angst zu haben …«
»Nein. Es ist nichts.« Nichts machte ihr Sorgen, nur er, und das würde nicht mehr lange so bleiben. Seine gute Meinung interessierte sie nicht mehr. Sie hatte ihre Lektion gelernt. Es war ihr wie ein Märchen vorgekommen, weil es nie real gewesen war. Jetzt sah sie die Wahrheit. Seine Meinung war so verfault wie seine Worte und genauso nutzlos.
Ihre Wut wuchs heiß und böse zu einem Entschluss heran. Sollte er die Wahrheit nur sehen. Sollte er sie sehen, wie sie wirklich war.
Sollte er doch versuchen, Krankheit und Armut mit seinem Charme hinwegzuzaubern und sich in einer mit Abwasser gefüllten Gasse wohlzufühlen. Im East End war sein Charme zu gar nichts nütze.
Laut sagte sie: »Du wirst die Kleider wechseln wollen. Zieh besser deine abgetragensten Sachen an, wenn du mit nach Bethnal Green kommst.«
15
Auf der Hauptstraße brannte hell die Sonne. Aber in die matschige Gasse, die für Simons Einspänner zu schmal war, drang kaum ein Lichtstrahl. Auf beiden Straßenseiten zeigten windschiefe Gebäude ihre bröckelnden Fassaden. Hinter mit Lumpen und Zeitungspapier verdeckten Fenstern erklangen Geräusche: ein schreiendes Kind, das heisere Stöhnen eines Mannes, das raue Lachen einer Frau. Von Zeit zu Zeit zogen die süßen Töne einer Fiedel an ihnen vorüber und verloren sich wie Gespenster in den Schatten.
Simon bemerkte diese Details nur am Rande, er war ganz auf die Frau an seiner Seite konzentriert. Die stolperte jetzt, aber als er ihr unter den Arm greifen wollte, entzog sie sich seiner Berührung und ging schneller.
Er ballte die Hand zu einer Faust und schob sie wieder in die Tasche. Was quälte sie? Auf der Fahrt hatte sie geleugnet, dass irgendetwas nicht stimmte, aber seit der Einladung von Hannah Crowley war sie so düsterer Stimmung, wie er es noch nie erlebt hatte.
Vielleicht war sie nur nervös, weil sie ihm ihre alte Welt zeigte. Er würde sie jetzt nicht drängen. Aber sobald sie wieder im Einspänner säßen, würde er den Grund für ihre Laune erfahren wollen.
»Pass auf, wo du hintrittst«, warf sie ihm über die Schulter zu. Ihr Gesicht lag dunkel unter der Kapuze des einfachen Mantels, den sie trug. »An einigen Stellen ist der Abflussgraben offen.«
Er brauchte keine Augen, um das zu bemerken. Ein Geruch nach Abwasser, Innereien und vergammeltem Gemüse lag in der rauchigen Luft. Zerbrochenes Glas knirschte unter seinen Stiefeln. Am meisten verwunderte ihn der Schlamm. »Im West End hat es letzte Nacht doch nicht geregnet«, bemerkte er.
»Kaputtes Rohr.«
Er
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