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Eine naechtliche Begegnung

Eine naechtliche Begegnung

Titel: Eine naechtliche Begegnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meredith Duran
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durchzuckte sie kalte Angst. Die Tür war von außen abgeschlossen! St. Maur hätte hereinkommen und alles Mögliche mit ihr anstellen können, während sie schlief.
    Jetzt ging sie im Schlafzimmer auf und ab, und ihre Laune wurde mit jedem Schritt schlechter. Keine zehn Minuten entfernt litten und hungerten Menschen. Gute Menschen. Mädchen, die von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang arbeiteten, Babys, die nicht darum gebeten hatten, auf diese Welt zu kommen. Und hier gab es Häuser voll mit Zeugs. Schicke, aus Seide gewebte Laken, weich wie Babyhaut. Hübsche Waschtischchen aus dunklem Holz, das wie Kirschen glühte, wenn Licht darauffiel. Gardinen von der Farbe des Sommerhimmels, schwer, glänzend und geschmeidig. Die samtbeflockte Tapete war so weich unter ihren Fingern – mit geschlossenen Augen könnte sie fast glauben, sie streichelte den Bauch eines Häschens.
    Und der Hocker in der Ecke! Man sollte nicht denken, dass man viel Aufhebens um so ein Möbelstück machen würde, aber dieser Hocker war mit einer so feinen Stickerei bezogen, dass ihre Finger schon wehtaten, wenn sie die Stiche nur ansah. Unglaublich! Die Reichen verwöhnten sogar ihre Ärsche!
    Hätte Nell ein Messer gehabt, hätte sie die Stickerei herausgeschnitten – ein dämlich aussehendes, unterernährtes Mädchen mit einem Einhorn, das seinen Kopf in ihren Schoß gelegt hatte – und locker für fünf Pfund verkauft.
    Aber sie hatte kein Messer mehr. Letzte Nacht hatten zwei brutale Diener sie festgehalten, während ein stumpfnasiges, sauertöpfisches Hausmädchen sie durchsucht und das Messer, das Nell in ihrem Stiefel aufbewahrte, sofort gefunden hatte.
    Aus welchem Grund St. Maur sie hier festhielt, anstatt sie der Polizei zu übergeben, fragte Nell sich lieber nicht. Da war vieles, über das sie nicht nachdachte, während sie auf und ab ging. Zum Beispiel, dass er ihren Namen kannte. Es war egal. Die Leute in Bethnal Green sprachen nicht mit Fremden; er würde sie nur schwer ausfindig machen, wenn sie erst einmal entkommen war. Nein, sie musste an wichtigere Dinge denken – zum Beispiel daran, was sie stehlen könnte. Ziemlich viel, hoffte sie. Das hatte sie ja wohl verdient, wo sie dem verdammten St. Maur schließlich sein armseliges kleines Leben gelassen hatte.
    Zuerst kam das Buch auf dem Nachttisch. Geprägtes rotes Leder und Goldschnitt. Nell hatte in ihrem Leben schon eine Menge Bücher gelesen, aber noch nie ein schöneres in der Hand gehabt. Auch der Inhalt machte einen wundervollen Eindruck: irgendeine Geschichte über einen verfluchten, magischen Stein. Mum hätte es geliebt – solange sie nicht in einer dieser Stimmungen war, in denen sie nur die Bibel las.
    Beim Gedanken daran bekam Nell einen Kloß im Hals. Sie schluckte schwer, während sie mit dem Finger über die Prägung des Einbands fuhr. Seit Mum gestorben war, hatte Nell nicht mehr gelesen. Ihr Zorn war zu heftig gewesen, als dass geschriebene Worte zur ihr durchgedrungen wären.
    Doch an diesem Morgen fühlte sie sich, als wäre sie nach einem langen, sinnlosen Besäufnis erwacht. Die Dumpfheit war fort. Ihre Sinne schienen so scharf zu sein, dass sie vor allem zurückschrak. Selbst das Spiel des Sonnenlichts auf dem Teppich, der bewegte Schatten der Blätter, ließ sie zusammenzucken.
    Ruhig atmete sie aus. Für das Buch würde sie einen guten Preis bekommen. Sie schob es unter die Matratze und sah sich um, was es sonst noch gab.
    Als sie die Schritte im Flur hörte, hatte sie ein paar kleine Dinge zusammen: ein Spitzendeckchen, das auf dem kleinen runden Tisch unter einer Vase gelegen hatte, die kleine Porzellanfigur eines komisch aussehenden Milchmädchens, zwei silberne Kerzenständer. Sie schob alles zum Buch unter die Matratze, und als die Tür aufging, setzte sie sich drauf.
    »Wie vornehm«, flötete sie, als St. Maur hineinkam – mit einer feinen goldenen Uhr in der Uhrentasche und einer Krawatte so weiß wie die erste Windel eines Säuglings. Das schwarze Haar war aus dem Gesicht gekämmt und schmiegte sich in dichten, gekräuselten Wellen an den Kopf. »In Klamotten seh’n Sie gleich viel besser aus«, sagte sie und hätte diese Lüge immer und immer wiederholt, selbst wenn er sie gefoltert hätte. »Mir taten schon die Augen weh, was die gestern Nacht aushalten mussten.«
    Sein ungezwungenes Lächeln sah echt aus. Ein Grübchen tauchte plötzlich auf seiner rechten Wange auf. Ein Beweis dafür, dass es gelogen war, wenn Priester behaupteten, Gott wäre

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