Eine naechtliche Begegnung
Magen breit. Es gefiel ihm überhaupt nicht. Wie absurd war es bitte, neidisch auf sie zu sein, selbst für einen winzigen Augenblick. Ehrfürchtig bestaunte sie Glas, bewunderte Architektur, sie war die einfachste Erklärung dafür, wie Kathedralen funktionierten. Ganze Generationen waren von dieser Ehrfurcht zu religiösen Gefühlen verleitet worden, die ihr leidvolles Dasein rechtfertigten. Sie war nur ein naives Ding, das man erbärmlich leicht in Staunen versetzen konnte.
Er räusperte sich. »Es ist nur Glas«, sagte er. Aber er konnte die Augen nicht von ihr wenden. Und am merkwürdigsten war, dass er selbst von diesem strahlenden Gesicht betrachtet werden wollte. Wenn er es selbst nicht fühlen konnte, wollte er doch eine Weile hineinstarren, bis es ihn nicht mehr verletzte.
Jetzt senkte sie den Kopf. Sie verzog den Mund, als würde sie sich über sich selbst lustig machen. Trotzdem sah er noch das schwindende Erstaunen in ihrem Lächeln, das sie nicht unterdrücken konnte. »Ich habe so etwas noch nie gesehen«, gab sie zu.
Während dieser sieben Worte klang sie fast sprachgewandt.
Diesen Eindruck hatte er schon das zweite Mal. Er betrachtete sie aufmerksam und fragte sich, ob sie vielleicht mehr vom Englisch der Queen erinnerte, als sie durchblicken ließ.
»Dieser ganze Raum ist …« Sie drehte sich einmal um die eigene Achse, mit den knochigen Händen hielt sie sich an ihrem Hemd fest. Ihre Finger sahen blass und kränklich aus, die Knöchel waren so weiß, als hätte sie nicht genügend Blut für den ganzen Körper. »Er ist wunderschön«, sagte sie – schnell und grob, als schämte sie sich dafür.
Was eigentlich merkwürdig war. Schließlich sprach sie nur eine Tatsache aus. Für die Bibliothek war ziemlich viel Geld ausgegeben worden. Die feine Eichentäfelung an den Wänden, die geschnitzten Bücherregale, die gewirkten französischen Teppiche, das Porzellan und die auf den niedrigen Tischen verteilten Kunstobjekte waren von verschiedenen Vorgängern unter großen Kosten angeschafft worden – und fielen jetzt leider Gottes nur den direkten Nachkommen des letzten Earls zu. Er wusste das sicher, da er während der letzten Tage mit Händlern des Antiquitätenschwarzmarkts verhandelt hatte, wie viel diese Dinge einbringen könnten, wenn sie plötzlich »verloren gingen«.
Vielleicht musste er sie jetzt gar nicht mehr verlieren. Ein belebender Gedanke. Also weiter. »Wegen der Briefe …«
»Wo ist das?«
»Pardon?« Er folgte ihrem Blick zu einem Gemälde über der Tür. Darauf war ein irritierend kostspieliges Anwesen zu sehen, das ihm aufgebürdet worden war. Die alten, zerfallenen Gebäude waren das Gefängnis seiner elenden Jugend gewesen. Jemand hätte schon vor hundert Jahren den Schneid haben sollen, es niederzureißen, bevor diese ganzen Komplikationen mit dem Erbe überhaupt angefangen hatten.
»Gibt es das wirklich?«, fragte sie.
Verdutzt drehte er sich wieder zu ihr um. »Ja. Paton Park.«
»Wo liegt das?«
»In einer gottverlassenen Ecke in Hertfordshire. Warum fragen Sie?«
Sichtlich zögerte sie. »Es ist …«
Er wartete noch einen Moment, aber sie zuckte mit den Achseln und schien das Interesse zu verlieren. Stattdessen blickte sie auf ihre Füße hinunter und trat auf dem Boden herum. »Auch sehr schick, das hier.«
Der hier freiliegende Fußboden war mit bemalten Kacheln bedeckt – es sah spanisch aus. Wollte sie etwa zu jedem Gegenstand eine Bemerkung machen? »Ja, es ist sehr hübsch.«
Sie lächelte schwach. »Wahrscheinlich gerade hübsch genug.«
Hatte sich da ein trockener Tonfall in die Stimme der Lady geschlichen? Er schenkte ihr ein Lächeln, eine feine, reumütige Mischung aus Selbstzerfleischung und offenem Charme. Es wäre für beide einfacher, wenn sie ein wenig Gefallen an ihm fände. »Ich gestehe, dass ich meine Aufmerksamkeit normalerweise den Büchern schenke, nicht dem Raum, in dem sie untergebracht sind.«
Sie ließ den Blick über die Regale schweifen. »Sie müssen ziemlich viel Aufmerksamkeit zu verschenken haben.«
Die Entgegnung, die ihm sofort dazu einfiel, gab ihm zu denken. Sie war sexuell und vollkommen unangebracht. Beinahe lachte er. Hier war ein Gassenmädchen mit zerlöcherten Ärmeln. Ihr näher zu kommen, wäre so hygienisch, wie in einem Dreckloch zu baden.
Aber vielleicht war das ein Grund für ihren Zauber. Ein Hauch von primitiver Perversion.
Der andere Grund war natürlich die süße, dunkle Gerechtigkeit, die darin
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