Eine naechtliche Begegnung
geschwungene Treppenfluchten abwärts, die im Erdgeschoss aufeinander zu liefen. Die Tür unten war wahrscheinlich der Ausgang. »Hier biege ich ab«, sagte sie und ging auf eine Treppe zu.
Als Nell plötzlich seine Hand auf ihrem Arm spürte, zögerte sie. Hätte er sie fester gepackt oder an ihr gezerrt, dann hätte sie ihn einfach abgeschüttelt und ihm als Zugabe noch einen Schlag in die Magengrube verpasst. Bereit dazu war sie. Aber er hielt sie nicht einmal richtig fest. Seine Finger lagen einfach nur dicht über dem Ellbogen auf ihrem Oberarm. Eine warme, ruhige Berührung, die sie aus irgendwelchen Gründen stehen bleiben ließ.
Ihr kam ein komischer Gedanke. Seine Berührung hatte etwas Magisches. Sie hätte wetten können, dass sie nicht die erste Frau war, die er mit zwei Fingern eingefangen hatte.
»Bitte«, sagte er.
Nell drehte sich um und sah ihn an. Schon lange hatte niemand mehr dieses Wort zu ihr gesagt. Ihr gefiel die Ironie daran, dass ausgerechnet er es sagte. St. Maur sah genau so aus, wie ein Herr dieses Hauses aussehen sollte – reich gekleidet, ein gutes Stück zu gut aussehend und mit dieser undefinierbaren Ausstrahlung, die scheinbar alle vermögenden Leute hatten: Sie fühlten sich wohl, waren unglaublich ungezwungen und hatten vor nichts und niemandem Angst.
Wovor sollte er sich auch fürchten? Die Welt sah sicher auf einen Blick, dass er eine wichtige Person war.
Nell schluckte, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. Es war albern, aber in seiner Gegenwart bekam sie ein bittersüßes Gefühl. Wahrscheinlich hatte er Möglichkeiten, von deren Existenz sie keine Ahnung hatte. Für ihn waren sie selbstverständlich, während ein Mädchen wie sie seine Seele verkaufen müsste, um auch nur einen Blick darauf zu erhaschen.
»Was haben Sie vor?«, sagte sie, nachdem sie tief Luft geholt hatte. »Warum sind Sie dermaßen an einem Bastard des alten Earls interessiert? Und erzählen Sie mir keinen Quatsch.«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Offensichtlich habe ich mich nicht klar ausgedrückt, Nell«, sagte er. »Sie sind kein Bastard.«
Simon bekam Kopfschmerzen, wenn er dieses Mädchen betrachtete. Oder vielleicht war Schwindel die korrekte Bezeichnung. Sobald er ihr schmales, missmutiges Gesicht ansah, spürte er, wie sein Gehirn zögernd und wankend die Information verarbeitete, die die Augen ihm lieferten. Nell sah Lady Katherine wirklich erstaunlich ähnlich – wenn man ein paar Kilo Körpergewicht, ein paar Hundert Pfund für Kleidung und Schmuck sowie zweiundzwanzig Jahre bester Erziehung abzog.
Und natürlich das blaue Auge. Er würde herausfinden, wer das getan hatte.
Er fragte sich, wie es Kitty gefiele, dass ihre Zwillingsschwester aus der Gosse in Bethnal Green stammte. Nell war der lebendige Beweis, dass eine Aubyn weder Kosmetik noch Mode brauchte, um zu beeindrucken. Aber an ihr zeigte sich auch, wie sehr Kittys Aussehen ihrem gehobenen Lebensstil zu verdanken war. Die Augen beider Schwestern waren von einem angenehmen, dunklen Blau, aber diesen Stich ins Violette bekamen sie nur im Kontrast zu bestimmten Farben. Nells Kleidung – eine vollkommen lächerliche, übergroße Jacke und ausgebeulte Kniehosen – legte nahe, dass Schmutziggrau nicht dazugehörte. Ihre Magerkeit betonte die Wangenknochen, für die Kitty so bewundert wurde, aber sie ließ auch das harte Kinn mit dem Grübchen und dem quadratischen Kiefer deutlicher hervortreten, den Kitty so oft hinter einem Fächer verbarg.
Er konnte es kaum abwarten, die beiden einander vorzustellen. Kitty war sehr überzeugend gewesen, als sie Simons Antrag, Lady Cornelia für tot zu erklären, angefochten hatte. Das hatte zu seiner Strategie bei der Testamentsanfechtung gehört, und Kitty hatte leidenschaftlich widersprochen.
Tief in meinem Herzen weiß ich, dass sie noch lebt
, hatte sie vor dem Richter gejammert.
Sicher wäre sie überrascht zu erfahren, dass sie recht gehabt hatte.
Natürlich war es immer noch möglich, dass diese Frau nur ein uneheliches Nebenprodukt von Lord Rushdens Eskapaden war. Eine Betrügerin, die das Glück hatte, Katherine ähnlich zu sehen, und genügend Verstand, den Namen der verschwundenen Erbin anzunehmen. Von Cornelias Verschwinden vor sechzehn Jahren hatte damals wirklich jeder gewusst, weiß Gott.
Aber war das überhaupt wichtig? Sie sah Katherine ähnlich genug, um ihr Zwilling zu sein, und man konnte ihr sicherlich beibringen, die richtigen Erinnerungen aufzusagen. Wenn man sie
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