Eine naechtliche Begegnung
sichergestellt, dass ihn keiner seiner Standesgenossen tadeln würde, falls er es ihr gegenüber an Respekt fehlen ließe.
Unerklärlicherweise verunsicherte ihn diese Vorstellung. »Wie auch immer Sie es nennen, das Ergebnis war das gleiche«, sagte er. »In Folge verlor der alte Earl das Interesse an ihr, und Jane Lovell nahm es nicht gut auf. Sie scheint den Verstand verloren zu haben. Aus Rache nahm sie eine der Töchter des Earls mit, als sie floh. Diese Tochter hieß Cornelia.«
Noch immer sah sie ihn auf dieselbe leere, stille Weise an. »Kein besonders seltener Name.«
»Sie haben eine Zwillingsschwester«, sagte er. »Die Ähnlichkeit ist verblüffend.«
Ein nicht unbedeutender Anteil dieser Ähnlichkeit lag in der Art, wie Nell ihre lange, hochmütige Nase hob und ihn darüber hinweg anstarrte. Auch noch der letzte Rest von Simons Zweifeln flog davon. Während der vergangenen drei Saisons hatte Kitty Aubyn Dutzende ihrer Mitdebütantinnen mit genau diesem Blick eingeschüchtert. Und aus Nells Augen konnte dieser Blick einen erwachsenen Mann dazu bewegen, noch einmal gründlich über seine Pläne nachzudenken.
»Okay«, sagte sie. »Sie glauben, ich war das Mädchen, das von dieser Frau gekidnappt wurde.«
»Ja.« Er schwieg, denn jetzt war er selbst von Staunen überwältigt. Es fühlte sich berauschend an und so neu, dass er es auskosten wollte.
Die verdammte Cornelia Aubyn
. Sechzehn Jahre lang hatte der alte Rushden das Land durchforstet, um sie zu finden. Und jetzt saß sie vor ihm.
Simon räusperte sich. »Sie hat Sie nicht entführt, um Lösegeld zu fordern, sollte ich vielleicht dazu sagen. Sie hat sie einfach mitgenommen.« Er nahm den Brief. »Diese Notiz hat sie hinterlassen. Da steht: ›An Seine Lordschaft …‹«
»Ich kann selbst lesen«, sagte sie. »Geben Sie her.« Sie beugte sich vor und nahm ihm den Brief aus der Hand. Als sie das Schreiben betrachtete, huschte etwas über ihr Gesicht, Überraschung, Verwirrung, er konnte es nicht genau sagen. Ihre Stimme verriet nichts, als sie jetzt langsam, aber deutlich las. »›Sie werden bezahlen, was Sie mir genommen haben. Sie haben mich als niedrig stehend verschmäht, jetzt wird Ihre Tochter leben wie eine Niedrigstehende. Und ihre Schwester wird bei Ihnen nach Trost suchen. Ich hoffe, zu ihr sind Sie besser als zu mir.‹«
Nell zuckte mit den Achseln und gab ihm den Brief zurück. »Klingt wie totaler Unsinn.«
»Das Gefasel einer Verrückten«, stimmte Simon zu. »Aber Sie verstehen, was es bedeutet.«
»Eigentlich nicht.«
»Dann haben Sie nicht zugehört. Sie selbst sind die Tochter, die entführt wurde. Sie sind die legitime Tochter von Lord Rushden und seiner gesetzlich angetrauten Ehefrau. Sie …«
»Ich höre zu«, sagte sie scharf. »Und ich bin nicht taub, Sie müssen also nicht so schreien.«
Simon schwieg einen Moment. »Ich habe nicht geschrien.«
Jetzt wirkte das Mädchen unbehaglich. Sie starrte ihre Hände an und zog mit einer ruckartigen Bewegung die Schultern hoch. »Kann schon sein.«
Jemand schrie sie an, dachte Simon, und zwar häufig. Eine furchtbare Möglichkeit kam ihm in den Sinn. »Guter Gott. Sind Sie verheiratet?«
Ihre Augen wurden schmal. »Achtmal«, sagte sie. »Letzte Woche sind noch zwei dazugekommen. Was geht Sie das an?«
Tatsächlich ziemlich viel. Aber dies war wohl nicht der richtige Moment, sich zu erklären. »Reine Neugier. Erzählen Sie, machen Sie mir eine Freude.«
Sie presste die Lippen zusammen. »Nicht mein Job«, sagte sie. »Dafür können Sie jemanden bezahlen.«
»Gut gekontert.« Sie war von einer erfrischenden Klugheit. Und wahrscheinlich war sie heute Morgen wirklich wegen des Lohns besorgt gewesen, der ihr entging, nicht wegen eines Ehemanns, der sich aufregte, wenn sie nicht nach Hause kam.
Nein, dachte er. Sie ist nicht verheiratet.
Lächelnd blickte er auf den Brief. Selbst wenn er religiös gewesen wäre, hätte er niemals daran gedacht, für Cornelia Aubyns Heimkehr zu beten. Aber diese außergewöhnliche Erbin, deren Verschwinden damals die gesamte Nation in Angst und Schrecken versetzt hatte, war in seinem Schlafzimmer aufgetaucht, noch dazu in Gestalt einer schmuddeligen Fabrikarbeiterin, die nichts von ihren Ansprüchen ahnte. Nicht ahnte, dass sie das Recht hatte, alles zu fordern.
Ich kann ihr alles Mögliche erzählen
, dachte er.
Die Versuchung war so dunkel und mächtig, dass er spürte, wie sich die Haare in seinem Nacken aufrichteten.
Oder
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