Eine naechtliche Begegnung
erst mal ein bisschen aufgepäppelt hatte und in ein Kleid von Worth oder Doucet steckte, würde niemand bestreiten, dass sie eine Aubyn war.
Zumindest nicht bis sie den Mund aufmachte.
»Wohin bringen Sie mich?«, fragte sie, obwohl es etwas schrill herauskam und eher wie
Wo’n bringsemich
klang.
Nun, niemand würde erwarten, dass die sprachlichen Fähigkeiten einer Sechsjährigen eine so schlechte Behandlung überlebten. Und dieses Mädchen war schlecht behandelt worden. Das sah man deutlich an der Art, wie sie ihre Augen von rechts nach links schnellen ließ, als könnte plötzlich ein bösartiger Räuber im Flur auftauchen. Langsam dämmerte ihm, dass er selbst zu dieser Kategorie gehörte, da sie einen gleichbleibenden Abstand von ihm hielt – ein bisschen mehr als eine Armeslänge, wie er schließlich begriff. Sie passte auf, dass niemand sie anfassen konnte.
»In die Bibliothek«, antwortete er. Er überlegte, ob er ihr sagen sollte, dass sie beruhigt sein könne. Er hatte im Moment nicht die Absicht, sie zu berühren. Aber noch immer war er verblüfft über die Wirkung, die sie letzte Nacht auf ihn gehabt hatte. Zugegebenermaßen war er unbekleidet gewesen, was die Gedanken eines Mannes häufig in erotische Richtungen lenkte. Und sie hatte sich recht begeistert in seinen Armen gewunden. Aber abgesehen von der Tatsache, dass sie wie ein Rinnstein roch und man mehr Knochen als Kurven an ihr sah, war sie die Brut seines Vorgängers und Kitty wie aus dem Gesicht geschnitten. Das allein hätte sein Interesse wirkungsvoller abkühlen müssen als ein Eiskübel.
Aber die Anziehung wuchs. Sie blühte auf wie eine Pflanze in einem heißen, tropischen Dschungel. Er konnte kaum glauben, dass er etwas so Schmutziges mit dem Mund berührt hatte, im hellen Morgenlicht hatte er den verkrusteten Dreck auf ihrem Hals gesehen. Aber es war so: Er hatte nicht nur ein strategisches Interesse an ihr, er fühlte sich auch von ihr angezogen. Er war fast schamlos neugierig auf sie – und darauf, was er selbst in ihrer Gegenwart tun würde. Wie ein Mann, der sich aus selbstmörderischer Neugier an den Rand eines Abgrunds wagt, prüfte er sich jetzt: Wollte er sie, weil sie die vom Himmel gesandte Antwort auf sein Problem war? Oder einfach nur, weil er sie haben konnte – direkt hier, wenn er wollte, auf jede auch nur erdenkliche Weise?
Noch gestern hatte er zu wissen geglaubt, was es bedeutete, vollkommen machtlos zu sein: von einem toten Mann beraubt und besiegt zu werden. Enttäuschung und demütigende Hilflosigkeit hatten ihn lange genug wach gehalten, um das leise Klicken der sich öffnenden Tür und die vorsichtigen Schritte zu hören.
Wenn er Trost gesucht, sich nach Bestätigung gesehnt oder irgendein Zeichen gebraucht hätte, dass er im Grunde doch nicht hilflos war – er hätte kaum einen besseren Beweis bekommen können als sie. Dieses Mädchen war eine regelrechte Lektion in wahrer Verletzlichkeit. Sie war mit einem so veralteten Revolver in sein Haus eingebrochen, dass dieser nur aus reinem Glück nicht zufällig losgegangen war. Falls er beschließen sollte, sie im Gegenzug in einem Zimmer gefangen zu halten, bis seine Dienerschaft den Mut aufbrächte, zu protestieren – was Tage, vielleicht sogar Wochen dauern könnte –, hätte er trotzdem nichts zu befürchten.
Sobald jemand die Polizei riefe, müsste er nur erklären, unter welchen Umständen sie ins Haus gelangt war, und sie würde sofort ins Gefängnis wandern. Sie war niemand – noch nicht –, und er war der Earl of Rushden.
Sein Vorgänger hatte ihm nicht alle an den Titel geknüpften Vergünstigungen aberkennen lassen können. Selbst wenn er beinahe mittellos war, hatte er doch immer noch die Privilegien seines Namens, während sie – einfach vollkommen hilflos war.
Allerdings schien ihr dieser traurige Zustand nicht bewusst zu sein. Nicht eine einzige Bitte um Verzeihung hatte er aus ihrem Mund gehört. Wenn er jetzt darüber nachdachte, hatte sie nicht einmal Bitte gesagt.
Um ehrlich zu sein, hatte nur er dieses Wort bisher ausgesprochen.
Er lachte leise. Natürlich fühlte er sich von ihr angezogen. Frechheit hatte er schon immer bewundert.
Simon überholte sie und öffnete die Tür der Bibliothek. Der ritterliche Reflex brachte ihm einen scharfen Blick ein. Dann schlängelte sie sich an ihm vorbei in den Raum und blieb abrupt stehen. »Oh Gott«, hörte er sie flüstern.
Nun, wenigstens von der Bibliothek war sie beeindruckt. Sie war
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