Eine naechtliche Begegnung
Hat jemand Ihres gebrochen?«
»Oh ja.« Er sagte es leichthin, ohne Zögern. »Gehört wohl zu den Risiken im Leben eines Tunichtguts.«
Sie starrte ihn an. »Wer?« Welche Frau hatte diesem Mann so nah kommen können?
»Eine Frau.«
»Was für eine Frau?«
Er zuckte mit einer Schulter. »Es war offensichtlich die falsche.« Er wandte sich wieder dem Gemälde zu. »Die Countess war nicht dumm oder schwach. Gewiss manchmal zu großzügig. Einfühlsam, liebevoll – alles, was ihr Mann nicht war.«
Nell bemerkte, dass St. Maur der Frage nach der geheimnisvollen Herzensbrecherin elegant ausgewichen war, aber etwas anderes fiel ihr noch deutlicher auf. Seine Stimme wurde warm, wenn er von der Countess sprach. Das war kein Klatsch, den er da wiedergab. »Sie haben sie gekannt?«
»Ja.«
Natürlich – er war das Mündel des alten Earls gewesen. Diese Frau hatte sicher dabei geholfen, ihn großzuziehen.
Langsam runzelte sie die Stirn. Da stimmte doch etwas nicht.
»Ihre Mutter – Sie sprechen über sie, als wäre sie noch am Leben.«
»Das ist sie auch.«
»Warum war der Earl dann Ihr Vormund?«
Ein unwirsches Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen. »Der alte Rushden fand mich nicht ausreichend vorbereitet für die Ehre, die mir zuteilwerden sollte.«
Sie zögerte. »Ihre Mum hat Sie also einfach … weggegeben?«
Ein Muskel zuckte in seinem Kiefer. Sie hatte einen empfindlichen Nerv getroffen. Gut zu wissen, dass er einen hatte. »Er war begabt darin, andere von seiner eigenen Bedeutung zu überzeugen. Ich glaube nicht, dass es meinen Eltern je in den Sinn kam zu protestieren.«
Wie schrecklich. »Dann haben wir etwas gemeinsam«, sagte sie verblüfft. »Wenn Sie recht haben, wurden wir beide unseren Eltern weggenommen.«
Er sah ihr in die Augen. »Das ist wohl so. Aber Ihre wollten Sie zurückhaben.«
Nicht eine Spur von Selbstmitleid lag in seinen Worten. Aber gerade diese Unerschütterlichkeit verriet, dass er sich bemühte, seine Emotionen zu verbergen.
Auf einmal schämte sie sich. Sie hatte nur in ihm herumgebohrt, um sich Genugtuung zu verschaffen. Jetzt hielt er ihrem Blick stand und konfrontierte sie mit dem Beweis dafür, dass er Gefühle hatte. Der Verrat seiner Eltern hatte ihm zu schaffen gemacht.
Etwas in ihr wurde weicher. Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Es tut mir leid, St. Maur.«
Er betrachtete die Stelle, wo sie ihn berührte. »Das braucht es nicht. Wie ich schon sagte, was geschehen ist, ist geschehen.«
Jetzt hatte sie noch stärker das Gefühl, dass das nicht stimmte. »Stehen Sie sich denn nahe?«
»Meinen Eltern?« Als sie nickte, sah er ein wenig ungläubig aus. »Ist das irgendwie von Bedeutung? Mein Vater ist tot. Und was meine Mutter angeht, wir pflegen einen freundlichen Umgang. Wenn unsere Wege sich kreuzen, grüßen wir einander.«
Sie hatte nicht gesehen, dass er sich bewegt hatte, aber plötzlich war sein Arm außer Reichweite. Sie schob die Hand in die Tasche und ballte sie zur Faust. Sie kam sich unbeholfen vor. Wo sie herkam, freute man sich über eine freundliche Berührung. »Ist wohl eine raffinierte Art, Nein zu sagen.«
Er warf ihr einen undurchdringlichen Blick zu, dann deutete er mit dem Kinn auf das Gemälde. »Sehen Sie das Buch auf ihrem Schoß? Eine wunderbar illustrierte Ausgabe von Dantes Göttlicher Komödie. Ich nehme an, dass Sie die Liebe zu Büchern von ihr haben.«
Nell ging auf den Themenwechsel ein. »Haben Sie es? Ich würde es gern lesen.«
»Nein.« Seine Stimme wurde düster. »Ihre Bücher wurden verkauft.«
»Oh.« Jetzt hatte
sie
vollkommen das Gefühl, aus dem Gleichgewicht zu sein, und suchte nach einem Gegenstand, mit dem sie nicht anecken würde. »Ich möchte ein paar solcher Kleider«, sagte sie. Das Kleid der Countess war über und über mit Schichten von heller Spitze besetzt. Musste ein Vermögen gekostet haben. Wenn man es vorsichtig auseinandernahm, könnte man die Spitze einzeln verkaufen. Das wäre eine hübsche kleine Lebensversicherung.
»Ich fürchte, es ist ein bisschen altmodisch. Aber warum nicht? Sie kriegen eines, wenn Sie möchten.« Er lachte. »Ja, schaffen Sie Ihren eigenen Stil. Führen Sie eine neue Mode ein.«
Natürlich machte er Witze. »Klar doch«, sagte sie.
Sein Lächeln wich einer nachdenklicheren Miene. »Aber Sie begreifen, dass ich Ihnen genau das anbiete, oder? Nicht nur Geld, sondern die Macht und Position, es zu benutzen, wofür auch immer Sie wollen.«
Zwar sah sie keinen
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