Eine naechtliche Begegnung
ordinär? Sie würde schwören, nie wieder einen anzurühren, solange dieses Zeug –
Rih-dü-voh
, wie Mrs Hemple es nannte – jeden Abend auf dem Tisch stand.
Als ihr Teller beinahe leer war und Nell zu den Gemüsebeilagen überging, schlug Mrs Hemple wieder zu. »Nein, Mylady! Das ist
Spargel!
«
Nell sah auf. »Klar … ähm, ja«, verbesserte sie sich. »So ist es.« Und sie würde ihn essen. Er war mit Butter und Rahmsauce bestrichen. Er würde nicht in die Küche zurückgehen.
»Die Stangen isst man nicht«, sagte Mrs Hemple.
Nell war noch etwas schwindelig vom Geschmack des zartesten Fleisches, das sie je gekostet hatte. Über den mit Kerzen erleuchteten Tisch starrte sie jetzt die Frau an, die ganz sicher mehr als ihren gerechten Anteil im Leben verzehrt hatte. »Das ist Unsinn.«
Mrs Hemple schwoll der Busen an. »Es gehört zum guten Ton. Man isst nur die Köpfe der Spargel, nicht mehr.«
Nell drehte sich zu St. Maur. »Ich will die Stangen.«
Er ließ die Gabel auf den Teller sinken und sah sie direkt an. »Meinetwegen«, sagte er. »Ich sag’s nicht weiter.«
Zischend atmete sie aus. Er behandelte sie wie ein kleines Kind, dem man seinen Willen ließ. Aber vielleicht verhielt sie sich auch so. Der Unterricht war zu ihrem Besten, nicht für Hemple und St. Maur. Niedergeschlagen ließ sie die Gabel auf den Teller fallen.
Als es klapperte, richtete Hemple sich auf wie ein Hund, der Blut gerochen hatte. »Man macht keine …«
»Geräusche«, seufzte Nell. »Ich weiß. Wir sind mucksmäuschenstill.«
Sichtlich besänftigt lehnte Mrs Hemple sich wieder zurück.
Und so ging es noch eine halbe Stunde weiter. Man schmierte keine Butter aufs Brot. Man benutzte keinen Löffel, außer wenn man keine Gabel benutzte, wie zum Beispiel beim Nachtisch. Da nahm man natürlich einen Löffel, wie sollte man sonst die Sauce aufnehmen?
»Essen Sie nicht den Käse«, befahl Mrs Hemple. »Nur das Obst.«
»Mit der Gabel«, sagte Nell müde voraus. »Oder nein, mit dem Löffel.«
»Natürlich nicht. Nehmen Sie Ihre Finger! Wirklich, Mylady, haben Sie die Bücher nicht gelesen, die ich Ihnen zur Verfügung gestellt habe? Nein, so doch nicht – Ihre Hand darf sich nicht ganz um die Traube schließen. Ja, sehr gut. Jetzt legen Sie die Kerne ganz diskret auf Ihren Teller.«
Man faltete die Serviette nicht nach dem Ende des Mahls. »Legen Sie sie einfach so wie sie fällt neben den Teller«, sagte Mrs Hemple. »Und nun sollten wir Seine Lordschaft dem Portwein und den Zigarren überlassen und uns für den Kaffee und ein wenig Konversation in den Salon zurückziehen.«
Nell, die gerade ihre Serviette losgeworden war und sich abgewandt hatte, hielt jäh inne. Nein, nein, nein. Sie hatte auf die Spargelstangen verzichtet. Sie hatte sich mit einem Fünftel Teller Suppe zufriedengegeben. Die feinen, cremigen Käse hatte sie nur sehnsüchtig betrachtet. Sie hatte sich zusammengerissen und die Erbsen nicht mit dem Messer gegessen. Und sie hatte die Dessertschüssel nicht an die Lippen gehoben, um den letzten Rest Himbeerlikör zu trinken. Noch eine Minute länger und sie … und sie …
»Ich glaube, das ist genug für einen Abend«, sagte St. Maur. Er war ebenfalls aufgestanden und nahm jetzt plötzlich ihren Arm. »Das ist alles, Mrs Hemple. Vielen Dank.«
Als Nell sah, wie Mrs Hemple den Raum verließ, überkam sie aufrichtige Dankbarkeit. Sie ergriff St. Maurs Hand, die ihren Ellbogen hielt. »Danke«, sagte sie inbrünstig. »Danke.«
Er lachte sie an. »Ob Sie es glauben oder nicht, Sie haben es gut gemacht.«
Sie ließ die Schultern sinken. »Und Schweine können fliegen. Macht nichts. Solange Ihr Koch dieses Fleisch zubereitet, werde ich üben, bis ich die Königin der Welt bin.«
»Schön zu wissen«, sagte er. »Für so viel Fleiß haben Sie eine Belohnung verdient.«
»Ja?«, interessiert legte sie den Kopf schief. »Solange es nicht ein weiteres Handbuch über Etikette ist.«
»Sie dürfen bestimmen«, sagte er. »Was möchten Sie gern tun?«
Die weiße Kugel traf die rote und schickte sie trudelnd in das obere Loch. Mit einem breiten Grinsen richtete Nell sich auf. Sie hielt eine nicht angezündete Zigarre zwischen den Zähnen, und als sie den Queue jetzt ablegte, wanderte ihre Hand zu dem Whisky, den sie am Rand des Tisches abgestellt hatte. »Noch drei Punkte für mich«, sagte sie. Dann nahm sie die Zigarre aus dem Mund und deutete damit auf Simons Auge. »Wie fühlt sich das an,
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