Eine naechtliche Begegnung
herausholte.
»Ich sollte eigentlich zahlen!«
»Ganz ruhig«, sagte Simon. »Mit meiner Braut aus dem Fiebersumpf kann ich meine Sorgen bald begraben.« Er legte eine Banknote hin und sah in Harcourts aufgerissene Augen.
»Du willst das also tatsächlich tun? Wirklich?«
Guter Gott. »Ich werde dir Lady Cornelia erst vorstellen, wenn ich mir ganz sicher bin, dass sie dich nicht mit irgendwas ansteckt.«
Harcourt atmete geräuschvoll aus und lehnte sich zurück. »Hör mal, alter Freund, ich wollte nicht …«
»Natürlich nicht.« Simon schwieg und fühlte sich noch unbehaglicher. Es war absurd, das übelzunehmen. Harcourt sprach von Nell Aubyn wie von einem gefürchteten letzten Ausweg, weil sie der letzte Ausweg war. »Verzeih mir. Meine Laune ist nicht besonders gut.«
Harcourt zögerte. »Darf ich fragen warum?«
Er nahm Grimstons Brief und schnipste einmal mit dem Finger dagegen, bevor er ihn in die Jackentasche schob. »Nichts von Bedeutung«, sagte er. »Wirklich nicht.«
Vor Nell lag drohend die Treppe und versprach einen langen, kurvenreichen Abstieg bis zum schachbrettartig gefliesten Boden der Eingangshalle.
»Harmonisches Gleichgewicht!«, rief Mrs Hemple nach oben. Sie wartete am Fuß der Treppe neben St. Maur, und der tiefe Ausschnitt ihres feinen dunklen Kleides offenbarte zwei außerordentlich große Überraschungen. Das war schon eine komische Gesellschaft, in der ein Mädchen seine Knöchel nicht zeigen durfte, aber eine sechzigjährige Frau sich für ein vornehmes Beisammensein ein Kleid anzog, das den halben Busen freilegte.
»Wir warten«, sagte St. Maur trocken. »Atemlos und so weiter.«
Ein Lächeln zuckte über Nells Lippen. Garantiert war er atemlos vor Langeweile. Inzwischen stieg sie zum fünften Mal die Treppe hinunter, fest entschlossen, diesmal nicht zu stolpern. Das Abendessen war fertig und ihr knurrte der Magen.
Sie straffte die Schultern und legte eine behandschuhte Hand auf das Geländer. Der schwere Knoten zog den Hinterkopf nach unten und schob das Kinn genau im richtigen Winkel hoch. Mit der freien Hand hakte sie eine kleine Öse ein, mit der sie unauffällig den Saum der Röcke aus goldener Seide anhob. Die unerbittlichen Stäbe ihres Korsetts hielten ihr Rückgrat gerade, und die engen Ärmel bewirkten, dass sie ihre Arme während des Abstiegs gefällig gebeugt hielt.
»Vorsicht in der Kurve! Jetzt anmutig!«, zirpte Hemple, als sie den ersten Treppenabsatz erreichte.
»Ich bin schon zufrieden, wenn sie sich nicht den Hals bricht«, erwiderte St. Maur halblaut.
»Sie muss es einfach schaffen«, sagte Mrs Hemple fröhlich. »Monsieur Delsarte hält Treppen für eine exzellente Prüfung des harmonischen Gleichgewichts.« Diese Woche hatte Nell täglich verschiedene Exerzitien aus Delsartes
System der Ausdrucksformen
üben müssen: zuerst die
Serpentinenbewegung
, dann das
lockere Handgelenk
und die
Kopfrotation in verschiedenen Haltungen
.
Eine Treppe hinabzusteigen war komplizierter, als Nell bisher angenommen hatte.
Aber als sie um die Kurve geschwebt war und nur noch der letzten Treppenlauf vor ihr lag, fühlte sie sich endlich leicht auf den Füßen – endlich nicht mehr von den vielen Metern Seide gestört. Da eine Lady nicht selbstzufrieden aussehen durfte, richtete sie das Lächeln an St. Maur. In der eng sitzenden schwarzen Jacke und der weißen Krawatte gab er für eine junge Frau ein glaubhaftes Objekt der Bewunderung ab.
St. Maur erwiderte ihr Lächeln, während am Rand ihres Gesichtsfelds Mrs Hemples kritische Miene auftauchte. »Achten Sie auf Ihren Schwerpunkt«, warnte sie. »Nicht zu selbstsicher werden.«
Nur dieses eine Mal achtete Nell nicht auf die Anweisung. In St. Maurs Gesicht konnte sie ablesen, dass sie es gut machte. Sein Lächeln verblasste, aber er wandte die Augen nicht von ihrem Gesicht. Kluger Junge. Nell wusste, dass sie umwerfend aussah, das goldglänzende Kleid war wunderschön. Wozu brauchte sie ihren Schwerpunkt? Sie meisterte die Treppe, ein hinreißender Mann liebäugelte mit ihr, und das Dinner würde köstlich werden.
Als sie unten ankam, lachte sie und St. Maur fiel ein. »Hals ist noch heil«, sagte er, als er ihr seinen Arm bot. »Gut gemacht.«
Mrs Hemple schniefte. »Eure Lordschaft, Sie haben zugestimmt, dass Lady Cornelia von der Übung profitieren würde. Bitte überspringen Sie nicht die Förmlichkeiten, jetzt, wo sie in der Empfangshalle angekommen ist. Sie hätten sie um das Vergnügen ihrer Begleitung
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