Eine naechtliche Begegnung
»Verzeihen Sie, wenn ich Sie zum Weinen gebracht habe.«
Nell schüttelte den Kopf. Nicht wichtig, keine Entschuldigung nötig. »Das ist furchtbar. Kein Wunder, dass Sie den Mann gehasst haben.«
»In der Tat. Obwohl er sicher glaubte, für den Titel das Richtige getan zu haben.«
Diese Nachsicht passte gar nicht zu ihm. Weil sie befürchtete, dass es wegen ihr war, sagte sie: »Ein Titel ist nur ein Name. Verglichen mit der Liebe eines Menschen ist er nichts wert.«
Simon zog eine Augenbraue hoch. »Sie sind also eine Idealistin?«
Was für eine Frage – und er stellte sie ausgerechnet ihr. Sie waren zwei Menschen, die kaltblütig aufgrund der Aussicht auf ein Vermögen heiraten wollten. Hätte er sie nicht so sachlich angesehen, als erwarte er eine bedeutungsvolle Antwort, hätte sie ihn ausgelacht.
Nell forschte in sich nach der Wahrheit. »Wahrscheinlich hängt es davon ab, was Sie mit dem Wort meinen«, sagte sie langsam. »Ich hatte schon immer einen Hang dazu, das Unmögliche zu wollen.« Fenster in der Fabrik. Respekt von der Vorarbeitern und den Jungen auf der Straße. Ein eigenes Zuhause, ein wenig Sicherheit. Irgendwo geborgen sein. Jemanden lieben.
Von jemandem geliebt werden.
»Was ist schon unmöglich, Nell?«, entgegnete er. »Wenn wir Erfolg haben, was wird dann noch unmöglich für Sie sein?«
Erschrocken über eine plötzliche Erkenntnis starrte Nell ihn an. In nur einem Moment, mit einer einzigen Frage, hatte er es versehentlich aufgedeckt: Was sie wirklich wollte, konnte man nicht kaufen, egal wie groß ihr zukünftiges Vermögen war.
Ein Schatten fiel über sein Gesicht. »Was ist?«, fragte er. »Was habe ich gesagt?«
Sie schüttelte den Kopf und wich seinem besorgten Blick aus. Als er ihr sanft die Hand auf den Arm legte, schloss Nell die Augen, von widersprüchlichen Impulsen zerrissen: die Hand wegschlagen oder sie ergreifen.
Sie hatte gedacht, es wäre sicher, ihm außerhalb eines Schlafzimmers Gesellschaft zu leisten, aber seine kameradschaftliche Art wurde ihr genauso gefährlich – sogar gefährlicher. Er glaubte, er würde ihr alles geben, was sie brauchte. Seine freundlichen Worte, die Gespräche und sein Lachen weckten in ihr jedoch die Sehnsucht nach dem, was sie wirklich wollte – und was sie niemals von ihm bekommen würde. Wie auch. Egal, wo sie geboren war, das Leben hatte sie weit von den Orten weggeführt, wo ein Mann seines Schlags nach Liebe suchte.
Oh Gott im Himmel
. Wie dumm, wie unverzeihlich dämlich war es, plötzlich brennend eifersüchtig auf eine Frau zu sein, deren Namen sie nicht einmal kannte.
Sie öffnete die Augen. »Glauben Sie …«
Glauben Sie, Sie könnten ein Mädchen wie mich jemals lieben?
Nur eine Närrin stellte eine Frage, wenn sie wusste, dass ihr die Antwort nicht gefallen würde.
Nell holte tief Luft und zwang sich zu einem Lächeln. »Selbst mit verbundenen Augen würde ich Sie schlagen«, sagte sie und stellte ihr Glas zur Seite. »Sie hätten um einen Vorsprung bitten sollen.«
Dann nahm sie den Queue, beugte sich über den Tisch und machte ihren Stoß: Die Rote traf seinen Spielball, beide fielen ins linke obere Loch, während ihre eigene mit Tempo im rechten oberen landete. Der Stoß brachte ihr die zehn Punkte, die sie noch für den Sieg brauchte.
Als sie ihm ins Gesicht sah, entdeckte sie darin nichts von der erwarteten Enttäuschung. Langsam setzte er sein Glas ab. »Gut gemacht«, sagte er und fing kopfschüttelnd an zu lachen. »Mein Gott, Nell! Ich habe noch nie jemanden so spielen sehen!«
Sie grinste. »Naja«, sagte sie, blickte nach unten, scharrte mit dem Fuß auf dem Teppich und gab ihm eine hübsche, kleine Vorstellung von falscher Bescheidenheit – natürlich nur weil sie wusste, dass er es durchschaute. »Zwar hat man mich noch nie auf den Schultern irgendwo rausgetragen, aber sagen wir mal, dass man mir den einen oder anderen Drink spendiert hat.«
»Darauf wette ich! Oder nein.« Voller Selbstironie verzog er das Gesicht. »Mit Ihnen wette ich lieber nicht mehr.«
»Ja, da haben Sie recht. Sie können sich glücklich schätzen, dass ich nur um das Kleid und die zwanzig Pfund gebeten habe. Wie Sie mit Ihren Einsätzen umgehen, hätte ich um alles mit Ihnen wetten können. Zum Beispiel dieses Haus!«
Sein Lächeln verschwand, aber sein Blick zauderte nicht. »Bitten Sie darum«, sage er. »Es gehört Ihnen.«
Eine merkwürdige Aufregung machte sich in ihrem Magen breit. Die Art, wie er sie ansah
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