Eine private Affaere
ich weiß nicht, was ich machen soll, ich bin völlig durcheinander. Hör zu, ich geb’ dir die Adresse vom Krankenhaus.«
Quälend langsam las sie mir die Adresse vor. Jedes Wort schien ihr höchste Konzentration abzuverlangen. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab.
»Ich muß jetzt aufhören.«
Sie legte auf, und in meinem Kopf gingen die Gedanken wirr durcheinander. Eine halbe Stunde später rief sie mich noch einmal an, diesmal deutlich ruhiger. Sie klang teilnahmslos.
»Sie haben mir ein Beruhigungsmittel gegeben; offenbar hab’ ich einen Schock erlitten. Ich brauche dich. Das Zeug macht aus mir einen Zombie, aber ich weiß, wenn die Wirkung nachläßt, fange ich an zu schreien. Bitte, laß mich nicht hängen, Jimmy.«
»Nein, Schatz, aber du mußt mir einen Tag Zeit geben.«
»Einen ganzen Tag?«
»Bitte, hör mir zu. Beaufort hat so was Ähnliches wie einen Nervenzusammenbruch, und ich bin im Augenblick der einzige, der sonst noch ’ne Ahnung von dem Fall hat. Die Verhandlung beginnt morgen. Der Richter …«
Wieder legte sie auf.
Ich rief im Krankenhaus an und in unserer Wohnung. Im Krankenhaus hatten sie mir gesagt, daß nach einer Weile ein junger Mann gekommen sei, der Daisy geholfen hatte. Die Oberschwester erinnerte sich nur noch, daß er eine Jeans trug.
»Hatte er einen starken Cockney-Akzent?«
»Die Hälfte der Leute hier hat ’nen Cockney-Akzent.«
In unserer Wohnung ging niemand ans Telefon.
Ich fand in jener Nacht keinen Schlaf mehr. Gegen acht am nächsten Morgen rief ich meinen Widersacher in dem Verfahren an und bat ihn um seine Zustimmung zu einer Vertagung. Er war ein Gentleman. »Aber was wollen Sie dem Richter sagen?«
»Daß die Mutter meiner Freundin gestorben ist.«
»Sie werden schon ›Frau‹ sagen müssen, mein Junge, wenn Sie die Vertagung durchkriegen wollen.«
Also sagte ich »Frau« und bekam die Vertagung. Der Richter hatte erst in der vergangenen Woche ein langes Verfahren beendet und war froh über eine kleine Pause. Nur George Holmes reagierte gereizt.
Als ich nach Hause kam, konnte ich keinerlei Anzeichen dafür entdecken, daß sie nach dem Krankenhaus noch einmal in unserer Wohnung gewesen war. Es war offensichtlich, daß sie in höchster Eile verschwunden war. Mit klopfendem Herzen rief ich bei Thirst an, doch er ging nicht ran. Sie war auch nicht in der Wohnung ihrer Mutter. Ich spielte mit dem Gedanken, ihren Vater in den Staaten – Professor Sebastian J. F. Hawkley in Yale – anzurufen, doch ich wußte, daß sie sich nicht einmal in einer solchen Situation an ihn wenden würde. Für sie war er ebenfalls tot. Ich hatte ihr dabei geholfen, ihn umzubringen.
Ich spielte mit dem Gedanken, die Polizei anzurufen, aber ich wußte, die Beamten würden mir nur sagen, daß ständig Menschen vermißt gemeldet wurden; sie wäre lediglich ein Name mehr auf einer Liste. Außerdem wußte ich, daß sie eigentlich nicht auf diese Liste gehörte. Müde bestieg ich den Zug nach Sheffield, wo es immer noch regnete.
In den nächsten Tagen entwickelte sich mein Bedürfnis, in unserer Wohnung anzurufen, zu einem neurotischen Tick, der mich alle paar Stunden überkam. Sie hob nie ab. Am Ende rief ich tatsächlich bei der Polizei an, und der Beamte setzte ihren Namen pflichtschuldig auf die Liste der Vermißten. Mit der Skepsis in seiner Stimme hatte ich gerechnet. Schließlich kannte er weder Daisy noch mich; er wußte lediglich, daß sie mit einem anderen Mann weggelaufen war.
Nach dem Wochenende, an dem ich glücklicherweise beschäftigt war, Beauforts Exfrau zu helfen, ihn in ihr gemeinsames Haus zurückzubringen, aus dem er entkommen zu sein glaubte, kam ein Brief mit der Post.
Jimmy – Du hast mich im Stich gelassen. Ich hab’ Dich so gebraucht, aber Dir war wie üblich Deine verdammte Karriere wichtiger. Ich hätte Deinen Trost gebraucht, Jimmy – und den brauche ich immer noch. Wenn ich meinen Schock überwunden habe, rufe ich Dich an. Ich bin bei Oliver.
Daisy
Schock. Es ist schon merkwürdig, wie einen der Schock überraschen kann. Und manchmal gibt es keinen wirkungsvolleren Auslöser für einen solchen Schock als die Realisierung uralter Ängste. Als ich den Brief in der Hand hielt, überschlugen sich meine Gedanken. Bilder aus dem gemeinsamen Leben mit Daisy, sozusagen Miniaturen, blitzten in meinem Gedächtnis auf. Einen Augenblick lang erschien mir die Vergangenheit sehr viel realer als die Gegenwart. Erst ein paar Stunden später setzte
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