Eine private Affaere
Oberst. Die britische Kaderschmiede ist mindestens zweihundert Jahre überholt.« Er betrachtete mich mit aufrichtigem Blick. »Immer dieselbe Schwarzweißmalerei, Gut oder Böse, Annahme oder Verweigerung. Das ist seinem Wesen nach … es ist unchristlich.«
»Und – haben Sie angenommen oder verweigert?«
»Sein Vater wollte, daß er Militärgeistlicher wird, aber er hat ihm gesagt, wo er sich den Wunsch hinstecken kann.« Sie klang erregt.
Wieder wurde Hogg rot. »Ich … tja, wenn es Sie interessiert: Ich habe so etwas wie eine Krise durchgemacht. Ich sollte sozusagen ein Feigenblatt der Offiziersklasse vor Gott werden und eine Vaterfigur für die Truppen. Aber außer in Belfast erschien mir das … nun, sogar die Feldwebel hatten neue Autos und wohnten in Doppelhaushälften. Ich war nicht dort, um Leiden zu lindern, sondern um Schuldgefühle abzubauen. Ich habe mich gefragt, ob Schuld nicht das einzig Christliche ist, das uns noch geblieben ist. Ich habe überlegt, wo Christus gearbeitet hätte, wenn er in das moderne England hineingeboren worden wäre.«
»Und die Antwort war Southeast London?«
Er runzelte die Stirn. »Tut mir leid, es ist maßlos, wenn ich die ganze Zeit nur von mir selbst rede. Eigentlich wollte ich mich mit Ihnen über Oliver unterhalten.«
»Was hat er gesagt – wie gut kennt er mich?«
»Er hat gesagt, Sie sind sein einziger Freund.«
»Ich habe ihn zweimal gesehen – einmal, als ich einen Freispruch für ihn erwirkt hatte, obwohl er eindeutig schuldig war, und das zweite Mal nach seinem Anruf in den Chambers. Da haben wir einen Spaziergang über die Waterloo Bridge gemacht. Aber wir sind nur bis zur Mitte gekommen. Er ist ziemlich beleidigt abgezogen, weil ihm der Rat, den ich ihm gegeben habe, nicht gefallen hat.«
»Was war das für ein Rat?« wollte Daisy wissen. »Zieh deine Socken hoch, Carruthers, und vergiß nicht, daß du Brite bist?«
Als Hogg merkte, daß ich kurz davorstand, die Beherrschung zu verlieren, mischte er sich ein. »Er hat nicht gesagt, daß er Sie gut kennt. Er hat gesagt, Sie sind sein einziger Freund. Offenbar habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Er ist nicht … nun, ich habe nicht den Eindruck, daß er viel verlangt. Sie sollen ihn nicht bei sich unterbringen oder eine Bürgschaft für ihn übernehmen. Er hat eine ganze Menge durchgemacht in Wormwood Scrubs. Er ist vergewaltigt worden und hat sich die Syphilis geholt. Die anderen Insassen halten ihn für einen Spitzel. Ich muß Ihnen wahrscheinlich nicht sagen, was das bedeutet. Leute wie er laufen immer wieder in die Falle. Sie kennen nur andere Kriminelle. Damit sie das Niemandsland zwischen ihrer Welt und der unseren hinter sich lassen können, brauchen sie zumindest eine Hand von der anderen Seite.«
»Und was will er?« fragte ich.
»Nun, da gibt es noch diese andere Sache – er hat einen Scheck gefälscht, um sich eine Hose zu kaufen. Natürlich würde er deswegen nie im Gefängnis landen, aber wenn er dafür verurteilt wird, wird er nicht vorzeitig entlassen.«
»Und was kann ich tun?«
»Er braucht jemanden, der sich Gedanken über eine Berufung macht. Er sagt, alle anderen Barristers, die er kennt, sind Nieten. Die machen nur das Nötigste, aber mit Ihnen hätte er vielleicht eine Chance.«
Ich spürte, daß Daisy mich ansah. Wütend darüber, daß sie sich das Recht herausnahm, das als Test zu betrachten, sagte ich all die Dinge, die sie haßte, mit genau der Stimme, die sie verabscheute.
»Ich fürchte, das kommt nicht in Frage. Schließlich muß ich an meine Karriere denken. Ein Barrister kann nicht mit Kriminellen fraternisieren. Unser Ruf ist alles. Wie soll ich vor einem Richter noch glaubwürdig wirken, wenn ich mich mit Ganoven anfreunde?«
»Aber Sie haben sich doch schon mit ihm angefreundet, oder?« fragte er. »Als Sie damals mit ihm auf einen Drink gegangen sind, als Sie sich bereit erklärt haben, ihn außerhalb des Temple zu treffen. Hatte das denn nichts mit Sympathie und Mitmenschlichkeit zu tun?« Seine Augen glänzten.
»Nein. Das versteht ihr beide nicht, und ihr werdet es auch nie verstehen. Schuldgefühle sind ein Laster der Mittelschicht, und der Drang, Gutes zu tun, ist ein Mittel, um Schuldgefühle abzubauen. Er hat nichts damit zu tun, daß man jemandem helfen will. Ich habe keine Schuldgefühle wegen meiner Klassenzugehörigkeit; wir sind praktische Leute, wir Burschen aus der Arbeiterschicht, und die Schuld hat keinen praktischen Wert. Wenn ihr
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