Eine Rose im Winter
Erienne hatte das Gefühl, daß er sich unter rauhen und zu derben Späßen aufgelegten Matrosen genauso zu Hause fühlte und er daher alle Seiten des Lebens zu genießen schien.
Verborgen unter dem Schatten ihrer langen Wimpern glitten Eriennes Augen sorgfältig über den Mann. Seine breiten Schultern saßen trefflich in einem gut geschneiderten blauen Mantel, und die Reithosen, deren maulwurfsgrauer Farbton zur Weste paßte, umschlossen enganliegend seine langen muskulösen Beine. Schon ein flüchtiger Blick verriet, daß er ein Prachtexemplar von einem Mann war, sogar im vollen Schmuck seiner Kleider. Irritiert mußte sich Erienne eingestehen, daß er das Vorbild war, an dem sie jeden der Freier, die um ihre Hand anhielten, fortan messen würde.
Die Fahrt ging weiter nach Süden, und Erienne fühlte, wie sie sich entspannte und fast an Mr. Setons leichtem Umgangston und seinen harmlosen Scherzen Gefallen fand. Was sie zunächst als eine sehr steife und förmliche Reise gefürchtet hatte, entwickelte sich zu einem angenehmen Ausflug, und sie verspürte so etwas wie eine leichte Enttäuschung, als sie an ihrem Ziel ankamen.
Ein kleines Schild, das den Gasthof als Löwentatze auswies, schwang quietschend über der Tür in den Scharnieren gleich wie ein verängstigter Vogel in der steifen Brise. Avery hielt seine Tochter auf ihrem Platz, während Christopher und die anderen Passagiere ausstiegen, und wandte sich dann, nachdem er selbst hastig heruntergeklettert war, unwirsch an sie.
»Und daß du mir dieses Flirten sein läßt«, fuhr er sie an. Er drückte sich vor dem Wind seinen Dreispitz in die Stirn und warf einen vorsichtigen Blick ans Ende des Wagens, wo Christopher seinen Hengst losband. Er erinnerte sich an den Zwischenfall im Gasthof in Mawbry und senkte seine Stimme auf eine etwas vorsichtigere Tonart, bevor er fortfuhr. »Mr. Goodfields Wagen wartet hier auf uns, doch eh' wir weiterfahren, muß ich noch sehen, daß wir hier Zimmer bekommen. Beeil dich also.«
Es ärgerte ihn, daß Erienne ihm nur lustlos folgte, und sobald ihre Füße den Boden berührten, packte er sie mit einem derben, schmerzhaften Griff und schob sie unsanft in einen wartenden offenen Wagen. Aus Angst, daß dieser schuftige Yankee noch irgend etwas anstellen könnte, wenn sie sich länger aufhielten, überhörte er ihre Bitte, sich noch frisch machen zu dürfen. Averys Sorge war vielleicht nicht unberechtigt. Während Christopher in aller Ruhe seinem Pferd die Zügel über den Nacken warf, beobachtete er aufmerksam das Geschehen. Die Abneigung des Mädchens, sich in das andere Fahrzeug packen zu lassen, war nicht zu übersehen.
Der Kutscher ging nach hinten und zog die Plane vom Gepäck. Durch eine Frage und Gebärde Christophers wurde sein Interesse auf den offenen Wagen gelenkt.
»Wieso, diese Kiste dort gehört Mr. Goodfield. Der älteste un' reichste Kaufmann hier in 'er Gegend«, erwiderte der Kutscher. »Fahr'n Se diese Straße noch etwas weiter und dann an der Kreuzung nach Norden. Die Stelle könn' Se gar nich' verfehlen. Das größte Haus, das Se je gesehen haben.«
Zum Dank ließ Christopher eine Münze in die Hand des Mannes fallen und bat ihn, einen Krug Ale auf sein Wohl zu trinken. Der Kutscher bedankte sich überschwänglich und verschwand in Richtung Gasthof.
Erienne verweilte noch zögernd am Wagenschlag und spürte, wie sein graugrüner Blick auf ihr lag, während sie sich umdrehte. Christopher zog langsam seine Mundwinkel zu einem Lächeln nach oben und tippte freundlich an seinen Hut. Avery geriet in Wut, als er dem Blick seiner Tochter folgte und das Objekt ihres Interesses entdeckte. Er packte sie am Arm, schob sie in den Wagen und eilte dann zu der Kutsche zurück, um ihr Gepäck zu holen.
»Und Sie kümmern sich um sich selbst!« warnte er Christopher mit unheilvoller Stimme. »Ich habe hier meine Freunde, und ein Wort von mir genügt, daß sie sich Ihrer annehmen. Und glauben Sie mir, wenn die dann mit Ihnen aufhören, sind Sie für die Damenwelt nicht mehr so interessant.«
Der jüngere Mann erwiderte die Drohung mit einem nachsichtigen Lächeln. »Sie scheinen nicht sehr schnell zu lernen, Bürgermeister. Erst schicken sie mir Ihren Sohn und jetzt glauben Sie, daß Sie mir mit Ihren Freunden Furcht einflößen können. Vielleicht haben Sie vergessen, daß ich im Hafen ein Schiff mit einer Mannschaft habe, die im Kampf mit Piraten und Freibeutern wohl erprobt ist. Würden Sie sie gerne noch mal
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