Eine Rose im Winter
Ziel zu erreichen, schreckte sie selbst unter Missachtung der Wahrheit nicht davor zurück, jemanden zu verleumden, zu schmähen oder durch Lügen zu vernichten. Ihre Zunge war wie eine Peitsche, unter deren Hieb die Verwundeten sich in Todesqualen wanden. Erienne hegte keinerlei Zweifel, daß die Frau sie in ihrer Abwesenheit gnadenlos heruntermachen und ihren Ruf zerfetzen würde. Hemmungslos würde Claudia dem Yankee ein wild verzerrtes Bild von ihr zeichnen.
»Was kümmert es mich?« flüsterte Erienne unglücklich. »Claudia und Mr. Seton sind ja wie füreinander geschaffen!«
Viertes Kapitel
Am östlichen Himmel schickte die aufgehende Sonne ihre ersten kräftigen Strahlen durch die versprengten Wolken und tauchte die weiß gekalkten kleinen Häuser von Mawbry in rosa Licht, Zaghaft drang das Morgenlicht durch die Bleikristallscheiben, von Eriennes Zimmer und weckte sie aus unruhigem Schlaf. Sie seufzte, begrub ihren Kopf in ihrem Kissen und dachte mit Missvergnügen daran, daß sie sich nun in Wirkinton nach einem anderen Freier umsehen mußten. Sie wußte nur zu genau, daß ihr Vater nicht von seinem Ziel abzubringen war, besonders seit er sie mit dem Yankee im Gasthof beim Essen gesehen hatte, und es war zwecklos, die Dinge noch länger hinauszuzögern.
Verdrossen kroch sie aus ihrem Bett und bewegte sich langsam zur Küche. Sie fröstelte in ihrem dünnen Gewand, als sie das Herdfeuer wieder anfachte und den großen Wasserkessel auf die Flammen setzte. Aus einer Ecke der Stube zog sie eine Kupferbadewanne, die einmal ihrer Mutter gehört hatte und fand ein letztes Stückchen Seife, das sie von Farrell bekommen hatte. Es gab einmal eine Zeit, da hatte er stets daran gedacht, ihr kleine Geschenke aus Wirkinton mitzubringen, doch das schien Ewigkeiten her zu sein. Tag für Tag wurde er seinem Erzeuger ähnlicher und erinnerte sich weniger an die guten Ratschläge seiner Mutter.
Es passierte ziemlich selten, daß sie mal aus Mawbry und Umgebung raus kam, und wenngleich der Anlass nicht besonders reizvoll erschien, richtete sie sich doch sorgfältig her und zog ihr bestes Kleid an. Zumindest in der Hafenstadt hätte sich niemand beklagen können, sie zu oft in ihrem lila Festtagsgewand gesehen zu haben.
Wie jeder Mann vornehmer Herkunft ließ auch Avery seine Tochter vor der Wirtschaft auf die Kutsche warten, während er in das Gastzimmer eintrat. Nachdem er es sich auf seinem Lieblingsplatz bequem gemacht hatte und ein Krug Ale vor ihm stand, knüpfte er mit dem Gastwirt ein Gespräch an und machte dabei nicht die geringsten Anstrengungen, seine Stimme zu senken, als er von der bevorstehenden Fahrt in die Stadt mit seiner Tochter sprach. Neben Spielen und Trinken schien es Avery das allergrößte Vergnügen zu bereiten, sich selbst zu hören und gehört zu werden. Dieser Freude war er an diesem Morgen so hingegeben, daß er die große Person übersah, die aus dem Schatten einer dicken Säule hervortrat. Avery merkte auch nicht, wie sich die Eingangstür öffnete und wieder schloß, während er gierig seinen Durst löschte.
Der frische Wind spielte mit den Büscheln weicher Locken, die von Eriennes Haupt herunterfielen, er tändelte verspielt mit ihren Rocksäumen und zauberte eine frische Farbe auf ihre Wangen. Wie sie da in aufrechter Haltung und so herausgeputzt dastand, war sie für jeden Mann ein äußerst reizvoller Anblick, und viele der Vorbeieilenden blickten noch einmal ganz unverhohlen zurück, um einen zweiten Blick auf sie zu werfen. Der eine, dem man den Umgang mit ihr verboten hatte, hielt einen Augenblick vor der Tür der Gastwirtschaft inne und bewunderte ihre gepflegte und unaufdringliche Erscheinung. Die Tatsache, daß sie für ihn zur verbotenen Frucht geworden war, konnte sein Interesse nur noch steigern.
Christopher tat einen Schritt nach vorn und stand jetzt ganz dicht hinter dem rechten Ellenbogen der jungen Dame. Erienne spürte die Nähe eines Menschen, reagierte jedoch nur langsam, da sie glaubte, es sei ihr Vater. Als sie sich umdrehte, fiel ihr Blick auf ein Paar hohe, teure schwarze Stiefel, und ihre Verwunderung wurde zur neugierigen Überraschung. Ruckartig fuhr ihr Kopf hoch, und ihr Blick starrte in das schöne und vergnüglich lächelnde Gesicht ihres heimlichen Verfolgers.
Christopher tippte lässig an seinen Hut und sah sie mit einem breiten Grinsen an, schlug seine Hände hinter dem Rücken zusammen und schaute in den Himmel, wo ein leichter nordwestlicher Wind
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