Eine Rose im Winter
ein Mann war, den man beim Wort nehmen konnte. »Dann mußt du leider ohne mich zum Gasthof zurückgehen. Ich bleibe hier bei Mr. Goodfield …«
Die Tür schlug vor seiner Nase laut ins Schloß und ließ ihn sprachlos vor Erstaunen zurück. Er war gerade dabei, ihr nachzueilen, um sie wieder zurückzuholen, als er Smedleys Stock im Empfangssalon herrisch auf den Fußboden klopfen hörte. Besorgt eilte Avery zu ihm und überlegte sich dabei, wie er am besten das Verhalten seiner Tochter erklären und die verletzte Eitelkeit des Kaufmanns beschwichtigen könnte. Niemals zuvor waren Avery so viele Gedanken so verzweifelt schnell durch den Kopf geschossen.
***
Mit eiligen Schritten lief Erienne den Weg entlang, der von des Kaufmanns Haus wegführte. Ihre Gedanken waren in Aufruhr, und ihr Körper kochte vor Wut. Nicht genug damit, daß man sie zwang, ihre Aufmerksamkeit einer anscheinend endlosen Prozession heiratsfähiger Männer aus jeder Ecke Englands zu widmen. Nicht genug damit, daß der Maßstab, nach denen ihr Vater die Bewerber bewertete, sich allein nach der Größe ihres Vermögens und der Bereitschaft, seine Schulden zu tilgen, richtete. Und nicht genug damit, daß ihr eigener Vater sich nicht schämte, sie als Werkzeug zu gebrauchen, um seine Gläubiger zu beschwichtigen, die um ihr Geld fürchteten. Aber nun dazu ausersehen zu werden, einem tattrigen Alten zu Gefallen zu sein, damit er sich nicht beleidigt fühlte? Das war einfach zu viel!
Ein Schauder durchlief ihren Körper, als sie sich an die vielen tätschelnden Hände der vielen beflissenen Bewerber erinnerte und ihrer immer wiederkehrenden Eröffnungspartien: die zufällige Berührung ihrer Brust, die heimliche Liebkosung ihrer Schenkel unter dem Tisch, der heiße Schoß, der sich kühn gegen ihr Hinterteil preßte, und die albernen lüsternen Seitenblicke, die aus erhofftem geheimen Einverständnis mit ihr ihre fragenden und verängstigten Blicke beantworten sollten.
Sie hielt inne und verharrte mit geballten Fäusten und zusammengepressten Zähnen. Nur zu gut wußte sie, was der Abend noch für sie bringen würde, wenn sie in die Löwentatze zurückkehrte, ihr Vater würde versöhnlich maunzend mit Smedley Goodfield hereinkommen und versuchen, sie dazu zu bringen, einem vernünftigen Arrangement mit dem Kaufmann zuzustimmen. Und natürlich würde Smedley wie ein aufgeregter Gockel an ihrer Seite sitzen und jede Gelegenheit nutzen, sich an sie zu lehnen, ihre Hüften zu streicheln oder sich mit einem falschen Grinsen durch seine Zahnlücken über sie zu beugen und ihr eindeutig vulgäre Bemerkungen oder Geschichten ins Ohr zu flüstern. Er würde dann begeistert zu meckern anfangen, wenn sie sich darüber entrüstete, oder, wenn sie dies alles geflissentlich überhörte, ihr Schweigen als Aufforderung zum Weitermachen betrachten.
Eine Welle des Widerwillens schüttelte ihren ganzen Körperund ihr Magen verkrampfte sich. Sie war sich darüber im klaren, daß ihr Vater den Schuldturm fürchtete, und ganz sicher wollte sie ihn nicht dorthin bringen. Doch es war ihr auch klar geworden, daß sie die entwürdigende Art und Weise, in der er sie zu verkuppeln versuchte, nicht ertragen konnte.
Der Gedanke an den alternden Kaufmann mit seinem nervösen und einschmeichelnden Lächeln, der in dem Gasthof auf sie wartete, steigerte unversehens Eriennes Panik. Immer wieder sah sie vor ihren Augen das schmale Gesicht mit den rotgeränderten Augen, die sich rattenschnell bewegten, und dann die knochendünne, klauenähnliche Hand, die ihr das Kleid in fiebriger Hast zerrissen hatte …
Ihr Blick fiel auf einen Steinpfosten mit einem Pfeil, der nördlich in Richtung Mawbry zeigte, und ein Gedanke schoß ihr durch den Kopf, Wirkinton und die Löwentatze lagen nur wenige Meilen nach Süden. Der Weg nach Mawbry erforderte einen längeren Marsch, so daß sie dazu den Rest des Tages und vielleicht einen Teil der Nacht brauchte. Es wehte ein steifer und allmählich recht frischer Wind, doch sie hatte ihren wärmsten Mantel dabei, und es gab nichts, was sie aus dem Gasthof benötigt hätte. Ja eigentlich wäre alles, was da lag, nur eine Belastung gewesen, und bei einer Rückkehr dorthin wäre sie ein leichter Köder für die Launen Smedley Goodfields.
Erienne war entschlossen, und der Wunsch, Mawbry noch vor Mitternacht zu erreichen, beflügelte ihre Schritte. Ihre leichten Schuhe waren für den steinigen Weg schlecht geeignet, und so mußte sie immer wieder
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