Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.
zu werden.«
Und genau in diesem Satz steckte der Trick. Die Geißeln, mit denen die göttliche Gerechtigkeit sich für gewöhnlich zeigte, waren laut mündlicher und schriftlicher Überlieferung Hungersnot, Erdbeben, Heuschrecken, Trockenheit, Pest (sprich Aids heute) und andere Naturkatastrophen. Wie konnte man aber ein schreckliches Unwetter von den Anfängen der Sintflut unterscheiden? Hatte man die Wahrscheinlichkeit berechnet, daß es sich um eine solche Geißel handelte, bedurfte es, um das Problem zu lösen, der Bettelbulle, wie die Minderbrüder es nahelegten: Ein Viertel des Blatts, in winzige Fetzen gerissen und vom Wind fortgetragen (ein Begleitgebet aufzusagen stand frei), ließ mit einem Schlag die entfesselten Elemente zur Ruhe kommen, und ein Regenbogen erstrahlte im Nu. Im übrigen, abgesehen von Gottes strafender Hand, die ohnedies immer besonders hart traf, konnte eine ganz gewöhnliche Überschwemmung die Saaten zerstören, und ein starkes Unwetter ließ Boote auf See untergehen und Fischer ertrinken. Da die Leute meines Dorfs von der Landwirtschaft und dem Meer lebten, fand die Bulle rege Abnahme.
Mit seinem Roman Retablo trägt Vincenzo Consolo nicht nur Wasser auf meine Mühlen, sondern schüttet gleich so viel davon aus, daß daraus – da wir nun mal beim Thema sind – eine wahre Sintflut werden könnte. So sagt nämlich eine seiner Romanfiguren: »Ich war ein zufriedenes Mönchlein im Konvent der Gancia, ein Bettelmönch, und wandelte durch Straßen und übers Land, um Almosen zu erbetteln und Bettelbullen zu verkaufen; das waren Druckschriften, die Privilege und Ablässe erteilten, und zugleich waren sie Schutzschriften gegen gefährliche Bergpässe, Überfälle durch Diebesgesindel, Schiffbrüche, Unglücksfälle jeder Art auf Reisen.« Die » bullailochisanti« hatte also in anderen Gegenden als in meiner ganz verschiedene und weitläufigere Eigenschaften. In diesem Buch (und das meine ich mit Sintflut) spricht Consolo auch von der »Absprache«, ohne sie genauer zu erklären; doch man versteht, daß er ihr die gleiche Bedeutung beimißt wie Pallotta in seinem Dizionario storico della mafia. Die zwei Dinge aber, die Bulle und die Absprache, setzt er nicht in Beziehung zueinander: Hätte er es getan, hätte ich mir die Mühe ersparen können, diese Seiten zu schreiben.
Um die Bettelbulle kam ich also nicht herum, und dennoch hat sie ein Wunder, und zwar kein geringes, bewirkt. Mit einem Schlag kehrte nämlich meine Erinnerung wieder zurück. Mir fiel ein, daß ich noch vor der Schilderung aus Vecchiettis Mund irgendwo von Absprache gelesen hatte, nur daß da von »Absprachebulle« die Rede war. Die Tatsache, daß man von einer »Bulle« sprach, bedeutete, daß es sich um etwas Schriftliches handelte (während die Absprache ihrer Natur entsprechend nicht schwarz auf weiß festgehalten werden konnte), verfaßt von jemandem, der eine »Bulle« erlassen durfte: bestimmt also von einem Mann der Kirche, einem Papst, einem Kardinal, einem Bischof. An dieser Stelle hatte ich tatsächlich alle Einzelteile vor mir liegen, und sie fügten sich beinahe von selbst richtig zusammen. In Sachen »Absprachebulle« hatte ich etwas auf einer oder zwei der 1410 Seiten der Inchiesta sulle condizioni sociali ed economiche della Sicilia (Untersuchung über die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen in Sizilien) gelesen, die 1875 durchgeführt wurde.
6.
Am 3. Dezember 1874 beschließt der italienische Ministerrat unter Vorsitz von Marco Minghetti die Gesetzesvorlage vor den Kammern für den Erlaß außerordentlicher Maßnahmen im Rahmen der öffentlichen Sicherheit zur Bekämpfung des Gaunerwesens in der Toskana, in der Romagna und »in anderen Provinzen«. Merkwürdigerweise wird Sizilien, der eigentliche Problemherd, mit keiner Silbe erwähnt. Zwei Tage später wird der Gesetzvorschlag von Innenminister Cantelli vorgelegt, und die Reaktionen darauf sind auch aus den Reihen des Senats äußerst heftig; seltsam ist außerdem, daß Sizilien die einzige Region ist, über die man sich streitet; in den übrigen Regionen hat sich das Brigantentum urplötzlich, bei der bloßen Nennung möglicher Sondermaßnahmen von seilen der Regierung, in nichts aufgelöst. In einem einzigen Punkt stimmen Mehrheit und Opposition überein: Über die Ernennung einer parlamentarischen Untersuchungskommission, die dringend auf die Insel geschickt werden soll. Die Ergebnisse ihrer Arbeit werden als handfester
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