Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.
Diskussionsgrund bei der Anwendung oder Nichtanwendung der Sondergesetze dienen. Am 3. Juli 1875 wird der Startschuß für einen Untersuchungsausschuß gegeben, der aus neun Mitgliedern besteht: aus drei Senatoren, drei Parlamentsabgeordneten und drei vom König ernannten Männern. Die Dauer ihrer Arbeit wird mit voraussichtlich einem Jahr festgesetzt, die Unkosten liegen schätzungsweise bei einhunderttausend Lire. Es ist zu vermerken, daß Artikel 3 des Gründungsgesetzes folgendes besagt:
»Bei den vom Ausschuß benannten Zeugen sind die Vorschriften nach den Artikeln 306, 364, 365 Anmerkung 3, 368, 369 Anmerkung 4 des Strafgesetzbuchs anzuwenden.«
Das heißt mit anderen Worten, im Falle von Aussageverweigerung, Falschaussage, Verletzung der Anzeigepflicht hatten die Kommissare Anklagebefugnis, von der sie niemals Gebrauch machten. Nicht einmal als der stellvertretende Bürgermeister von Messina gestand, sich länger in Gesellschaft eines berühmt-berüchtigten, flüchtigen Banditen aufgehalten und ihm eine Zigarre angeboten zu haben, anstatt die Zuständigen zu benachrichtigen und ihn verhaften zu lassen.
Die erste Sitzung des Ausschusses fand am 29. August statt. Es waren alle Mitglieder versammelt: Giuseppe Borsani, Senator, Vorsitzender; Francesco Paternostro, Parlamentsabgeordneter, Zweiter Vorsitzender; Carlo De Cesare, Mitglied des Rechnungshofs, Sekretär; Nicolò Cusa, Senator; Carlo Verga, Senator; Romualdo Bonfadini, Parlamentarier; Luigi Gravina, Parlamentarier; Cesare Alasia, Staatsrat; Pirro De Luca, Hofrat des Kassationshofs. Der Kommission wurde ein zehnköpfiger Personalstab unter der Leitung von Vincenzo Cosenza, Königlicher Staatsanwalt, zugewiesen, zu dem vier Stenographen zählten.
In der Zeit zwischen dieser Versammlung und der ersten Anhörung, die am 6. November stattfand, bemüht sich die Kommission außer um eine Stippvisite auf der Insel, um mit den Präfekten und Verantwortlichen für die öffentliche Sicherheit zusammenzutreffen, auch um eine richtungsweisende Linie zur Durchführung der Untersuchung: Welche Ortschaften sollen, abgesehen von den größeren Städten, aufgesucht, werden? Welche Fragen sind welchen Personen zu stellen? Man einigt sich, die zu behandelnden Themen unter sieben Punkten zusammenzufassen:
1) wirtschaftliche Bedingungen des Landes
2) Straßenbeschaffenheit
3) Gebietsabgrenzung
4) öffentliche Sicherheit
5) Verwaltung auf Gemeinde- und Provinzebene
6) Justizverwaltung
7) diverse Dienstleistungen
Unter den Fragen zu Punkt vier (öffentliche Sicherheit) gibt es die mit der Nummer vierundvierzig gekennzeichnete, die ein gelungener Balanceakt zwischen Naivität und Dummheit ist: »Existiert in Sizilien eine Form der Vereinigung, die mit dem Namen Mafia bezeichnet wird?« Und zu Recht und ganz im Stil der Frage hören sie von einem verantwortungsbewußten Bürger eines Orts, in dem die Mafia nur so tobt, die Antwort: »Nein, von dieser Form des Gaunerwesens habe ich noch nie etwas gehört.« Doch keiner der Kommissare fühlt sich bemüßigt, angesichts einer solchen Antwort den Artikel 3 anzuwenden, den wir soeben beschrieben haben.
Wesentlich subtiler ist die Frage Nummer zweiundneunzig: »Hat man je angenommen, daß Mafia und Camorra bis in die öffentlichen Ämter vorgedrungen sind?« Die einstimmige Antwort lautet: Nein, niemals hat man derartiges angenommen. Und das wird man auch weiterhin nicht tun, selbst dann nicht, wenn man entdeckt, daß in einem Ort siebzig Prozent der Beamten wegen Mafiavergehen oder Vergehen im Dunstkreis der Mafia hinter Gittern sitzen oder kurz davorstehen.
Filigran, ja beinahe ins Absurde verstiegen wirkt die folgende Frage: »Hat es je eine Regierungsmafia gegeben, die organisiert wurde, um die Mafia mit der Mafia zu bekämpfen?« Auf diese Frage erhalten sie keine Antwort, wahrscheinlich ist den ehrenvollen Mitgliedern der Kommission ein Lächeln über die Lippen gehuscht. Ich möchte darauf hinweisen, daß die Mafia damals noch mit zwei f geschrieben wird, maffia, eins davon wird sie genau in jenen Jahren verlieren und dadurch um so handlicher werden.
Doch wem außer den Direktverantwortlichen in der öffentlichen Verwaltung wurden diese Fragen gestellt? Dem Klerus aus einsichtigen politischen Gründen gewiß nicht (es sei denn, er würde sich aus eigener Initiative heraus Gehör verschaffen), wohingegen die gemeinen Bürger sorgfältig ausgewählt werden mußten.
Zu diesem Punkt schreibt Leopoldo
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