Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.

Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.

Titel: Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
Vom Netzwerk:
– noch den fürchterlichen Tod ihrer Genossen vor Augen freigekommen wären, hätten sie – obgleich sie Mörder und Verbrecher waren und abgehärtet obendrein – einen derartigen Krach geschlagen, daß er noch auf der anderen Seite der Erdkugel zu hören gewesen wäre.
     Noch seltsamer ist, daß Marullo sich sogar im Datum irrt, an dem das Massaker stattgefunden hat. Er schreibt nämlich, daß es »im Morgengrauen des achtzehnten Januar« war, doch Gaetano Attard wiederholt rund einhundertvierzehnmal in seinem Verzeichnis, »verschieden in der Nacht vom fünfundzwanzigsten auf den sechsundzwanzigsten«. Und abgesehen vom Datum bedeutet die Angabe von ungefähr zwölf Stunden Todesringen für jeden einzelnen Tod indirekt, daß keine Ermordung durch Feuerwaffen vorgelegen hat, da die Schießereien ja bei Sonnenuntergang am fünfundzwanzigsten geendet hatten. Es handelt sich um einen Lapsus des Verfassers, der uns somit die Idee eines sich in die Länge ziehenden Todesringens eingibt.
     Marullo behauptet im weiteren Verlauf seiner Ausführung, daß am folgenden Tag (dem neunzehnten also) »die Grausamkeit noch einmal die Lebenden und die Toten beleidigt. Karren, hoch beladen mit den Leichen der Ermordeten, die kreuz und quer, einen auf den anderen geworfen wurden – Köpfe und Beine baumeln herunter, überall das violette, noch blutende Fleisch, das von den Bombensplittern zerfetzt war – , fahren durch die Dorfstraße; sie sollen am fernen Strand begraben werden, als wären sie an ihrem gewaltsamen Tod selber schuld und deshalb keiner friedlichen Ruhestätte auf dem Gemeindefriedhof wert! Viele dieser Leichenwagen zogen an den tieftrauernden Leuten vorüber, die in ihrem Herzen nichts als ein pietätvolles Gebet für die unglückseligen Opfer fanden«.
     Die Beschreibung ist wirkungsvoll, doch lassen Sie mich erst eins klarstellen… Nach der Schießerei, die den ganzen Nachmittag und Abend andauert, und nachdem er einhundertvierzehn Leute umgebracht hat, ohne daß auch nur eine Menschenseele im Ort etwas davon mitbekommen hat, eröffnet der Hauptmann Sarzana am nächsten Tag, als die Wogen sich scheinbar wieder geglättet haben, erneut und ohne ersichtlichen Grund das Feuer (oder riskiert es zu eröffnen). Er bestätigt das, was die Dorfbevölkerung im schlimmsten aller Fälle vermutet hatte, und stellt die Ergebnisse seines netten Einfalls auf mindestens fünfzehn Karren verteilt zur Schau (ohne ein Fachmann zu sein, gehe ich von dieser für den Transport der Leichen notwendigen Anzahl der Wagen aus). Obendrein zeigt sich Sarzana von seiner finstersten Seite und untersagt, die Toten in geweihter Erde zu begraben. Bei all dem – das Gefängnistor wird sich schließlich aufgetan haben, um einen Wagen nach dem nächsten passieren zu lassen – verhalten sich die guten Einheimischen laut Marullo wie brave Lämmer. Diese Version wirkt unglaubwürdig, es sei denn, man setzt bei Sarzana das Verlangen nach Selbstbestrafung wie aus dem Handbuch der Psychoanalyse und bei den Einwohnern von Borgata eine Unterwürfigkeit voraus, die an Heiligkeit grenzt.
     In ihrer Weitsichtigkeit hob Carolina Camilleri an dieser Stelle ihrer Erzählung für mich kleinen Jungen einen bestimmten Satz hervor: »Der Befehlshaber der Torre schüttete ungelöschten Kalk über die Toten im Graben. Doch da die Kalkmenge nicht ausreichte, wurden nicht alle Leichen zerfressen. Nach Sarzanas Flucht also wurde eine kleine Anzahl Toter bei der Crocetta begraben.«
     Laut einer zweiten und stichhaltigeren Version fand der Abtransport einiger Toter erst viele Tage später statt. Der Ort der Bestattung trifft jedoch zu: der Strand genau unterhalb von Caos, dem späteren Geburtsort Pirandellos. Um anzuzeigen, daß dort unter der Erde Tote lagen, wurde ein Holzkreuz aufgestellt, und aus diesem Grund hieß der Ort, der zuvor namenlos war, » a crucidda« – das kleine Kreuz. Viele Gebeine fand man unter diesem Kreuz, als dort fünfzig Jahre später für den Bau eines Bahnhofs gegraben wurde: Die Überreste wurden damals in das Massengrab auf dem Friedhof geschafft. Wie man sieht, war den Kerkerbrüdern im Leben wie im Tod das Los bestimmt, von einem Massengraben zum anderen zu wechseln. Wenn die Dinge aber so stehen, wurde der Befehl zur Bestattung in nicht geweihter Erde bestimmt nicht von Sarzana gegeben, und ich bezweifle, ob er überhaupt die Befugnis dazu gehabt hätte. Mittlerweile glaube ich, daß ein solcher Befehl überhaupt nicht erteilt

Weitere Kostenlose Bücher