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Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.

Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.

Titel: Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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Vergnügen daraus machen kann, die Leichen der Opfer durch die Straßen zu schleifen und den Kindern zu gestatten, sich an der schändlichen Verstümmelung zu beteiligen, als wäre es ein Spiel.« Giuseppe Pitre erzählt, daß er, »noch ein Knabe«, an den Strand der Festung ans Meer geführt worden sei und »die grauenvoll verstümmelten und entstellten Leichen« der Sbirren auf dem Wasser habe schwimmen sehen. Diese Gewalttat war sicherlich durch die Entdeckung der alten und frischen Leichen in den Polizeiposten und den grauenvollen Anblick einer hübschen Anzahl von Folterinstrumenten ausgelöst worden, die, wie man wußte, gerne und häufig zur Anwendung gekommen waren. So mancher Historiker hat zudem geschrieben, die Polizisten seien getötet worden, weil sie ein Symbol der Macht darstellten, und es gibt nichts Gefährlicheres als das Zurücktreten der Person hinter ein Symbol. Eine im Süden gebräuchliche Redewendung besagt: »Kommandieren ist besser als Ficken«, was in diesem Fall bedeutet, daß die Polizeischergen ihre Phantasie sehr angestrengt haben müssen, um durch ihr »Kommandieren« die unterschiedlichsten Orgasmen zu erleben.
     Als aber eine Schar von viertausend Personen das Gefängnis von Sant’ Anna besetzte und die dort eingekerkerten Sbirren ergriff, wurde keine Lynchjustiz verübt. Pasquale Calvi schreibt in seinen Memorie storiche (Historischen Memoiren), daß eine Art Volksgericht aufgestellt wurde, und die wenigen, die sich »inmitten des verkommenen Schandpfuhls auf außerordentliche Weise frei von Schuld gehalten hatten, wurden durch Zurufe als ehrlich beurteilt und blieben unversehrt«. Urteilsverkündungen vor Gericht sollte man, ob nun Volksgerichte oder nicht, mit Skepsis bewerten, und ich kann mir lebhaft vorstellen, wie viele private Vergeltungschläge, Grobheiten und Mißgunst sich bei dieser Gelegenheit unter dem Deckmantel unparteiischer Rechtsprechung verbargen. Ich schließe mich Harold Acton an, dem es äußerst schwerfällt, »das erbarmungslose Gemetzel von Hand der rasenden Menge zu rechtfertigen«, selbst dann, wenn in den Polizeistationen tatsächlich einige Skelette entdeckt worden sind. Im Torre-Gefängnis von Borgata Molo hatte der Hauptmann Sarzana kein einziges Skelett im Schrank, dafür aber über hundert noch warme Leichen im Keller. Er war kein Sbirre, sondern ein Soldat, doch wie ein Sbirre hatte er gedacht und gehandelt: Die Uniform hätte ihn nicht vor dem Volkszorn retten können.

    Und trotzdem kam er mit heiler Haut davon. Wie sich die Dinge tatsächlich zugetragen haben, darüber lassen sich nur cum iudicio (besser gesagt mit einer von Vernunft untermauerten Phantasie) und mit einer guten Portion Vorsicht Vermutungen anstellen.
     Halten wir uns wieder an Marullo, den ich bereits als jungen Burschen gelesen habe; mich dauert es, ihm jetzt nicht gegenüberzusitzen, um gemeinsam mit ihm Überlegungen anzustellen; mir kommt es ungerecht vor, mich nur auf das zu stützen, was er schriftlich hinterlassen hat, und mir das Schweigen von jemandem zunutze zu machen, der sich in seinem Leben Ansehen und Achtung verdient hat (was beweist, daß ich nicht den Kopf und den Magen bestimmter Historiker habe, deren Weisheit zu einem guten Teil auf der Tatsache gründet, daß die Toten keine Widerrede mehr geben können). Auf den anderthalb Seiten, die Marullo dem Mord im Torre-Gefängnis widmet, stehen meiner Meinung nach eine ganze Menge mißverständlicher oder falscher Dinge.
     Als allererstes ist da die Anzahl der Toten. Marullo behauptet, daß die Zahl der Zwangsarbeiter, die in den Massengraben getrieben wurden (der kurz darauf seine Endsilbe verliert und nur noch in der grauenvollen Bedeutung von »Massengrab« verwendet wird, an die uns seit Katyn die Todesacker rings um die ganze Welt gewöhnt haben), einhundertsechsundfünfzig betragen habe. Doch das Sterberegister der Gemeinde Borgata Molo (auf das wir noch zurückkommen werden) nennt in schöner Reihenfolge einhundertvierzehn Tote. Als die Namen der Ermordeten offiziell eingetragen wurden, gab es keinen Grund mehr für irgendwelche Täuschungsmanöver, und es ist seltsam, daß sich Marullo, der als Bürgermeister Zugang zu sämtlichen Dokumenten hatte, nicht an das Totenregister hält. Oder will Marullo vielleicht zu verstehen geben, daß trotz Geschossen und Sauerstoffmangel zweiundvierzig Zwangsarbeiter im Graben überlebt haben? Das kommt mir unwahrscheinlich vor; sobald jene zweiundvierzig Überlebenden

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