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Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.

Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.

Titel: Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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Gesicht zu springen. Den Luftschacht offenzulassen, ist ebenfalls unmöglich, da das Gitter jeden Moment nachgeben wird. So bleibt ihm nur, den Druck, den die Gefangenen darauf ausüben, zu verringern. Er erteilt den Befehl, drei Petarden in den Graben zu werfen und die Treppe sogleich wieder hermetisch abzuriegeln. Auf diese Weise sichert er sich hundertprozentig ab, denn wenn die Gefangenen sterben, wird keiner mehr behaupten können, daß er die Absicht hatte, ein Massaker zu begehen: Die Isolierung der Treppe war für die Verteidigung des Torre-Gefängnisses einfach notwendig. Sollten sie es doch dem Architekten anlasten, der sie im fünfzehnten Jahrhundert gebaut hat! Schließlich baut man entweder eine Treppe oder einen Luftschacht.
     Der Knall der drei im Innern abgefeuerten Sprengkörper wird auch von den Belagerern gehört, die kurz darauf mitbekommen, wie die Stimmen der Lebenslänglichen nach und nach ersterben. Aus der Menge werden keine Schüsse mehr abgegeben. Allen schwant, daß etwas Furchtbares passiert sein muß, doch dieser Umstand stachelt sie in ihrer Gewalttätigkeit nicht an, sondern macht sie atemlos vor Verblüffung. Nicht einmal die Soldaten auf der Terrasse schießen mehr. »Die Bevölkerung«, schreibt Marullo, »ist stumm vor Angst, sie ahnt das Geschehene, verläuft sich und zieht sich schweigend zurück, um vor den entsetzten Familien der Häftlinge die erdrückende Qual ihrer eigenen Seele zu verbergen, auf der das vermutete Unglück bereits als Gewissensbiß ob eines unwissentlich begangenen Vergehens lastet!«
     Damit trifft er ins Schwarze. Langsam dreht sich der Spieß um: Die Schuld, wenn auch eine unbewußte – Marullo behauptet, die Sträflinge seien durch die drei Petarden getötet worden, doch es stellt sich die Frage ob diese in der Lage sind, einhundertsechsundfünfzig Personen zu töten, so viele sollen seinen Angaben nach in dem engen Raum zusammengepfercht gewesen sein –, fällt also auf die Dorfbewohner, die sich gegen die öffentliche Ordnung aufgelehnt haben, und gegen die Verwandten der Gefangenen, die versuchten, jene zu befreien. Der Aufruf zur Mittäterschaft hat in jenen Stunden gewiß viele Befürworter im Dorf gefunden: Er gilt als eines der Hauptargumente, auf denen die Schweigeverschwörung um das Massaker aufbaut.

    Die Soldaten von De Majo, die am vierundzwanzigsten Januar von Palermo zu De Saugets Feldquartier aufgebrochen waren, erreichten »mehr tot als lebendig« ihr Ziel; während des Marschs waren sie für die schießenden Aufständischen eine ständige Zielscheibe und hatten nichts weiter tun können, als das Tempo zu beschleunigen, da die Anwesenheit von Frauen und Kindern in der Marschkolonne die Organisation eines Verteidigungsansatzes unmöglich machte. Nicht einmal für die Truppen von De Sauget, die zum Einschiffungshafen eilten, war der Marsch ein Zuckerlecken gewesen; sie gerieten praktisch von einem Hinterhalt in den nächsten: Hinter den Hügeln lauerten Bauern, hinter Büschen und Felsbrocken warteten ihnen Aufständische mit höllischen Schießereien auf. Doch die Soldaten von De Sauget erwiderten die Angriffe umgehend und recht rabiat. Sie fühlten sich zutiefst in ihrer Ehre verletzt, weil eine Handvoll Lumpenpack sie zum Rückzug gezwungen hatte. Kaum also war einer der Rebellen gestellt, der nicht mal Zeit hatte A zu sagen, schon hatten sie ihm den Kopf abgeschlagen. Wie alle Truppen auf dem Rückzug, steckten auch De Saugets Soldaten in feierlicher Tradition unzählige Häuser in Brand und stachen viel Vieh ab (die Bauern rächten sich an den Hunderten von Pferden, die De Sauget bei der Einschiffung befohlen hatte, an Land zurückzulassen). Die heftigen Schlachten konnten jedoch einige Tage später zum Zeitpunkt der Waffenniederlegung nicht verhindern, daß der Oberst Gross beim Gang durch ein Spalier von Palermitanern – laut Zeugnis von Lord Mount Edgcumbe – »öfters seinen riesigen Leib nach vorn beugen mußte, um sein von Wind und Wetter gezeichnetes Gesicht gewissen schnauzbärtigen und schmutzigen Mündern zum Kuß zu reichen, und die Berührung mit ihnen dürfte nicht einmal in einem Land, wo gefühlvolle Umarmungen unter Männern an der Tagesordnung sind, angenehm gewesen sein«. Wegen der Abschlachterei der Sbirren von Hand der Palermitaner zeigt sich der Lord jedoch verwundert: »Man mag es schier nicht glauben, daß sich ein Volk, das seine Wohlanständigkeit in vielerlei Hinsicht bereits bewiesen hat, ein

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