Eine Schwester zum Glück
»Niemals.«
Ich kann noch immer nicht an dem Ort vorbeifahren, an dem früher die Bibliothek stand. Ich wende den Blick von dem Hochhaus ab, das jetzt dort siebenundvierzig Stockwerke emporragt. Ich habe es natürlich gesehen – seine asymmetrischen Aluminiumfenster, die über die Fas sade verstreut sind, den billigen Backstein, die griechischen Statuen aus glasfaserverstärktem Kunststoff, die vereinzelt in der Landschaft herumstehen. Es nimmt jeden Quadratzentimeter des Grundstücks ein und überragt die Nachbarschaft wie ein hässlicher Koloss. Man kann nicht so tun, als wäre es nicht da.
Doch ich tue mein Bestes. Allein schon aus Respekt vor Emmet Frost und der sonnigen Fensternische der Geisterlady. Und davor, dass alles letztlich verschwindet. Aus Respekt vor der Liebe, dem Verlust, und weil Kummer zum Leben dazugehört.
Doch noch lange vor alldem, am Tag des Referendums, stattete ich Mackie und den Babys einen Besuch ab – wie versprochen. Vielleicht einen Tag oder so später als geplant, aber immerhin.
Sie hatte nicht übertrieben. Das Haus war das totale Chaos, die Zwillinge schrien, und überall lagen Baby sachen herum. Als Mackie die Tür aufmachte, waren die Mädchen wie Indianerbabys eingewickelt. Das eine trug sie an ihrer Schulter, während das andere in einer schaukelnden Korbwiege schrie.
Mackie versuchte nicht einmal, das Geschrei zu übertönen und etwas zu sagen – sie drehte sich nur um, führte mich zum Sofa, ließ mich hinsetzen und steckte mir die Babys unter die Arme – eines auf jede Seite. Dann bereitete sie die Fläschchen zu, während ich versuchte, die Laune der Babys durch ein paar vernünftige Worte aufzuheitern: »Wer wird denn so einen Aufstand machen? Die Fläschchen kommen doch gleich! Entspannen wir uns einfach alle ein bisschen!«
Sobald sie satt waren, nickten sie ein, und ich hatte endlich Gelegenheit, sie genauer zu betrachten. Eben vor diesem Moment hatte ich die ganze Zeit Angst gehabt – wenn ich sie zum ersten Mal hielt, ohne von irgendetwas abgelenkt zu werden. In meiner Vorstellung hätte es ohne Weiteres geschehen können, dass sie sich anfühlten, als hätte man sie meinem Leib entrissen und mir gestohlen. Ich machte mich auf den Schmerz gefasst, doch er kam nicht. Als ich sie endlich in meinen Armen spürte, fühlten sie sich einfach wie alle anderen schlafenden Babys an. Außer dass es Mackies schlafende Babys waren. Von denen eines eine frische Windel benötigte, aber ich wusste nicht, welches.
»Sie sehen beide völlig unterschiedlich aus«, sagte ich. »Und sie sind Clive wie aus dem Gesicht geschnitten.«
»Nicht wahr?«, meinte Mackie. Sie hatte den Kopf nach hinten gelehnt und die Augen geschlossen. »Winzige Mini-Clives mit rabenschwarzen Haaren.«
Mackie schlief innerhalb von Sekunden ein, und so saß ich einfach reglos da und sah ihnen allen beim Dösen zu. Mein Blick schweifte von Gesicht zu Gesicht – alle drei wirkten so vertraut, selbst die neuen.
Jetzt, nach all der Zeit, bin ich froh, dass Mackie bekam, was sie wollte, und ich bin stolz, dass ich ihr dabei helfen konnte. Es war richtig, es zu tun. Doch ich werde trotzdem das Gefühl nicht ganz los, dass ich Mackie verloren habe. Die seltsame Stimmung aus der Schwangerschaft ist verschwunden, aber die Babys haben tatsächlich alles verändert. Mackie hat zum ersten Mal in ihrem Leben etwas, was ihr wichtiger ist als ich.
Nach der Geburt der Babys hatte ich Angst, dass ich die Babys für mich haben wollen würde. Doch tatsächlich bestand das Problem darin, dass sie Mackie wollen. Jede ein zelne Minute, Tag und Nacht. Und Mackie geht es genauso.
Ich weiß, dass ich selbstsüchtig klinge. Doch so lange Zeit waren es im Grunde nur wir beide. Selbst als Freunde oder ein Ehemann im Spiel waren, wussten wir, dass wir für die andere an erster Stelle kamen. Doch jetzt kommen für Mackie die Babys zuerst – und alle anderen kommen weit abgeschlagen an zweiter Stelle. Jetzt ist sie schon seit guten zwei Jahren eine Mutter und hat das Babyleben mittlerweile ziemlich gut im Griff. Trotzdem schaffen es diese Mädchen, sie völlig in Beschlag zu nehmen. Ich will ja nicht sagen, dass ich eifersüchtig auf die beiden bin, aber ich bin es. Bloß ein ganz kleines bisschen.
Besonders wenn ich mit der Hand vor Mackies zerstreutem Gesicht herumfuchtle und sage: »Hallo! Kannst du mir mal eben zwei Minuten zuhören?«
Dann schüttelt sie sich und sagt: »Tut mir leid! Ja.« Und sie sieht mir direkt in
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