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Eine schwimmende Stadt

Eine schwimmende Stadt

Titel: Eine schwimmende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Steward.
    Ich bestieg nun abermals das Verdeck und ging am Gesellschaftszimmer hin, um nach der Thür zu gelangen, die mir der Kellner bezeichnet hatte; sie führte mich auf eine Treppe und dann nach einem halbdunkeln, einfachen Raum, der sehr von den andern, schönen Sälen abstach. Um ihn herum war eine doppelte Cajütenreihe hergestellt. Jedenfalls hätte Harry Drake keinen günstigern Ort zur Isolirung Ellen’s finden können.
    Die meisten dieser Cajüten standen unbewohnt; an einigen, etwa zwei oder drei Thüren waren Namen auf den Anschlagzetteln eingetragen, aber den gesuchten fand ich wieder nicht. Nach einer genauen Besichtigung dieses ganzen Bezirks wollte ich mich eben ziemlich getäuscht zurückziehen, als ein leises, fast unhörbares Gemurmel an mein Ohr schlug; ich sagte mir sogleich, daß es aus dem Hintergrunde des linken Ganges dringen müsse, und wandte mich nach dieser Richtung. Die vorher kaum vernehmbaren Klänge drangen jetzt deutlicher zu mir, und ich erkannte eine Art klagenden Gesang oder vielmehr eine schleppende Melodie, deren Worte ich nicht verstehen konnte.
    Ich lauschte; der Gesang mußte von einer Frau herrühren, und ein tiefer, dumpfer Schmerz tönte mir aus ihm entgegen. Das war jedenfalls die Stimme der armen Wahnsinnigen, meine Ahnung konnte mich diesmal nicht täuschen. Ich näherte mich, so leise ich konnte, der Cajüte, es war die letzte in dem dunkeln Gange; sie mußte ihr Licht wohl durch eine der unteren Lichtöffnungen, die im Rumpf des Great-Eastern gelassen waren, erhalten. An der Thür war nur die Zahl 775 angegeben, kein Name stand daran; was sollte auch Harry Drake für ein Interesse daran haben, den Kerker Ellen’s zu bezeichnen?
    Ich hörte jetzt die Stimme der armen Frau ganz deutlich, und es kam mir vor, als sei ihr Gesang eine Folge von häufig unterbrochenen Sätzen und besänge Liebliches sowohl als auch sehr Trauriges.
    Obgleich ich kein Mittel in der Hand hatte, ihre Identität zu recognosciren, sagte ich mir doch entschieden, daß nur Ellen so singen könne.
    Einige Minuten stand ich regungslos und lauschte, dann hörte ich plötzlich, gerade als ich mich zurückziehen wollte, Schritte auf dem Mittelplatze. Natürlich vermuthete ich, daß Harry Drake sich näherte, und da ich in Fabian’s und Ellen’s Interesse hier nicht überrascht werden wollte, zog ich mich über den Gang, der sich um die doppelte Cajütenreihe herumwand, zurück; von hier hätte ich nach der Treppe und auf das Verdeck zurück gelangen können, ohne bemerkt oder gesehen zu werden.
    Es lag mir indessen daran, zu wissen, wer die nahende Person gewesen sei. Das Halbdunkel verbarg mich, und so drückte ich mich in einen Winkel und sah von hier aus, ohne selbst gesehen zu werden.
    Unterdessen hatte das Geräusch aufgehört, und merkwürdiger Weise war mit ihm auch Ellen’s leiser Gesang verstummt, aber nach einer kleinen Pause begann er von Neuem, und auch die Dielen knarrten unter einem langsamen Schritt. Ich bog den Kopf vor, und erblickte im unbestimmten Zwielicht, das quer durch den Impost der Cajüten hindurchfiel, – meinen Freund Fabian.
    Ja, es war mein unglücklicher Freund! Hatte ihn sein Instinct an diesen Ort geführt? war der Aufenthaltsort der jungen Frau schon früher von ihm entdeckt worden, als von mir? Ich konnte mir diese Frage nicht beantworten und wußte nicht, was ich davon denken sollte. – Fabian ging langsam, längs den Cajüten vorwärts, immer lauschend, und als ob er dem Klange der Stimme folgte, die ihn vielleicht wider Willen anzog. Jetzt, bei seiner Annäherung schien es mir, als ob die leisen Töne schwächer würden und verhallten, als wenn auch dieser leise Hauch noch verklingen wollte. Fabian kam an die Cajüte und blieb lauschend stehen.
     

    Fabian stand lauschend vor der Cajütenthür. (S. 95.)
     
    Wie mußte sein Herz bei diesen traurigen Tönen schlagen! Riesen sie vergangene Zeiten, liebe Erinnerungen in ihm wach? – Und doch! von Ellen’s Gegenwart hier an Bord konnte er keine Ahnung haben, da er nicht einmal wußte, daß Harry Drake unter den Passagieren war. Gewiß zog ihn dieser tieftraurige Gesang nur an, weil er seinem eigenen Schmerz, seinen eigenen Gefühlen entsprach.
    Fabian stand noch immer lauschend an der Cajütenthür; was wollte er beginnen? Wie, wenn er die Wahnsinnige anrief? wenn sie plötzlich die Thür öffnete und vor ihm erschien? Das Alles war möglich und mußte meinen Freund, wenn es geschah, in große Gefahr bringen.

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