Eine skandalöse Lady: Roman (German Edition)
nicht gerade leicht werden. Da gab sie sich keinen Illusionen hin. Vor allem nicht, wenn das Mädchen ständig verschwand und kein potenzieller Verehrer sie überhaupt zu Gesicht bekam. Was sie selbst betraf, so schätzte und bewunderte die alte Dame inzwischen die freigeistige junge Frau, doch sie verheiraten zu müssen, war eine andere Sache.
Wo steckte sie bloß wieder? Sie hatte sich jedenfalls nicht unter die Tänzer gemischt. Und auch am Rand der Tanzfläche konnte sie sie nirgendwo entdecken. Müsste sie aber, wenn sie da wäre, denn Lily war ja nicht gerade eine unauffällige Erscheinung. Besonders in dem Kleid nicht, das Ihre Gnaden selbst ausgesucht hatte und mit dem sie hochzufrieden war. Der rosafarbene Stoff war die perfekte Verpackung, um Lilys makellose Porzellanhaut und die glänzend braunen Haare zu betonen, und da ihr Sorgenkind keine Debütantin mehr war, hatte sie den Ausschnitt des Kleides bewusst etwas tiefer schneiden lassen, als sie es unter normalen Umständen für schicklich gehalten hätte. Doch in diesem Fall handelte es sich um ein wohlkalkuliertes Manöver.
Und es schien funktioniert zu haben . Mehr als ein Gentleman hatte Lily angeschaut, als sie den Raum betraten, und darum gebeten, ihr vorgestellt zu werden. Das machte ihre plötzliche Abwesenheit umso ärgerlicher.
Immerhin sah es im Moment so aus, als könnte das verführerische Aussehen im Verein mit einer üppigen Mitgift ihrem Schützling nicht nur zu einer guten Partie, sondern sogar zu einem Titelträger und damit zu einem Aufstieg in die Aristokratie verhelfen. Ein zweiter skandalöser Fehltritt allerdings würde alle Hoffnungen zunichtemachen.
Die Herzoginwitwe schaute sich um. Vielleicht wusste Lillians engste Freundin ja, wo sie steckte. Eugenia tolerierte die etwas altbackene, blaustrümpfige Miss Vivian Lacrosse, obwohl sie sie nicht unbedingt als passende Gefährtin für Lily betrachtete. Aber eine wirklich gute Freundin war wichtig, und vermutlich gab es Schlimmeres, als sich hingebungsvoll der Botanik zu widmen und eigenhändig in der Erde herumzuwühlen und Pflanzen einzugraben. Etwa die fragwürdigen Zerstreuungen, mit denen sich ein Großteil der feinen Gesellschaft die Zeit vertrieb.
Mittlerweile ernstlich beunruhigt, richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf und schaute sich um. Sobald sie Vivian entdeckte, ging sie gemessenen Schrittes zu der kleinen Gruppe junger Frauen hinüber, die um einen Tisch saß. Lady Julia Slather war auch unter ihnen – eine blonde Schönheit, die sogar das Zeug hatte, in dieser Saison Ballkönigin zu werden. Trotzdem liebte sie es, sich mit den unscheinbarsten Ladys zu umgeben.
Ist diesen jungen Damen denn gar nicht bewusst, welche Vorteile eine Heirat ihnen bringen könnte?
» Miss Lacrosse?«
»Euer Gnaden.« Vivian sprang auf und machte einen Knicks, der an Eleganz zu wünschen übrig ließ. Offensichtlich lagen ihr die gesellschaftlichen Umgangsformen erheblich weniger am Herzen als ihre Pflanzen. Schade, dachte die Herzoginwitwe, denn eigentlich könnte Vivian mit ihren dunklen Haaren und den grünen Augen auf eine dezente Art durchaus attraktiv sein, wenn sie nur mehr aus sich machen würde.
Vielleicht ein späteres Projekt. Sie muss doch mindestens so alt wie Lillian sein … Das wäre wirklich eine Herausforderung: einen Mann zu finden, der einen Blaustrumpf nimmt, der sich für die Kultivierung von Pflanzen und für botanische Bücher interessiert und weiß der Himmel was sonst noch …
Aber im Moment ging es um Lily. Sie musste herausfinden, wohin sie verschwunden war. Eine Herausforderung nach der anderen, bitte.
»Wann habt Ihr Lady Lillian zuletzt gesehen?« Die Stimme der Duchess war leise und bestimmend, und sie hielt sich sehr aufrecht. Eine Haltung, die den meisten Menschen Respekt einflößte.
»Oh.« Die Freundin schien nach Ausreden zu suchen, worin sie allerdings nicht besonders gut war. Die Duchess erkannte es daran, dass ihr Gesicht von einer plötzlichen Röte überzogen wurde und sie Lady Julia einen fragenden Blick zuwarf. »Ich bin mir … nicht ganz sicher.«
Ihr Kleid ist schlampig. Also wirklich, wenn sie eine gute Zofe hätte, die ihr die Haare richtet, könnte sie vielleicht sogar eine Schönheit sein … Man muss sich nur diese bemerkenswerten Augen ansehen, ganz grün und gold …
Sie zwang ihre Gedanken in die Gegenwart zurück und sagte schärfer als beabsichtigt: »Ihr werdet aber wohl zumindest wissen, wann sie den Ballsaal
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