Eine skandalöse Lady: Roman (German Edition)
beugte sich zu ihr herüber, sobald die Musik wieder einsetzte, und fragte: »Hat es sich wirklich geziemt, mit Rolthvens Bruder nach draußen zu gehen?«
»Er kann nicht tanzen, weshalb er mich einlud, stattdessen einen Moment mit ihm auf die Terrasse zu gehen.«
»Aha.« Einen Moment wirkte die alte Dame verblüfft, was nicht allzu oft passierte. Schnell fasste sie sich jedoch wieder. »Nun ja, da habt Ihr wohl recht, mein Kind. Das hatte ich vergessen.«
Lily lächelte gelassen und strich ihr Kleid mit einer trägen Handbewegung glatt.
»Trotzdem ist er ein unverheirateter, junger Mann und …«
»Ihr könnt unbesorgt sein. Er wird mir kaum zu nahe kommen – ich kann nämlich schneller laufen als er. Deshalb muss ich keine Angst haben, was Lord Damiens Absichten betrifft.«
Nein? Es wäre jedenfalls besser für sie gewesen, sich in diesem Moment nicht ausgerechnet daran zu erinnern, wie sein warmer Atem sich an ihrem Hals anfühlte, Versteckspiel und Tarnung hin oder her.
Lily sah, wie sich die Lippen der resoluten Eugenia zu einem leichten Lächeln verzogen. Das Optimum an Humor, das man von ihr erwarten konnte.
»Meine Liebe, ich wollte nur noch einmal darauf hinweisen, dass Euch in dieser Saison nicht der kleinste Patzer unterlaufen darf.«
Sie hatte ja recht, und Lily wusste selbst, was sie ihrem Ruf und ihrer Familie schuldig war. Also erwiderte sie nur sanft: »Er ist der jüngere Bruder eines Duke, der über jeden Zweifel erhaben ist.«
»Kann schon sein.«
»Ich glaube, seine gute Herkunft dürfte für sich sprechen.«
»Was das betrifft, so bin ich allerdings nicht so sicher, ob Rolthvens makelloser Ruf den schlechten des jüngsten Bruders aufzuwiegen vermag«, erklärte ihre Gönnerin spitz. »Robert Northfield war ein Lebemann von wahrlich dramatischen Ausmaßen, ehe er heiratete. Und Lord Damien ist für die Gesellschaft immer noch ein Buch mit sieben Siegeln, weshalb man ihm einiges Interesse entgegenbringt.«
Zweifellos war er ein Rätsel, dachte Lily, und genau deshalb fand sie ihn auch so interessant. Sie ertappte sich dabei, dass sie sich auszumalen begann, wie aufregend es wäre, seine Lippen zu spüren, die langsam an ihrem Hals entlangwanderten und von ihrem Ohr bis zur Kehle strichen. »Er hat gemeint, er werde mich vielleicht besuchen.«
Die Musik hatte wieder eingesetzt, und die Duchess schien das Letztgesagte nicht gehört zu haben. Ihr Blick blieb auf die Tanzfläche gerichtet, doch dann murmelte sie: »Das ist interessant.«
»Das finde ich auch«, stimmte Lily zu. Wenngleich sie sich nach wie vor fragte, wieso er ausgerechnet sie besuchen wollte? Er war gut aussehend, und ihn umgab diese unerklärliche Aura von Souveränität und Macht, über die nur starke Persönlichkeiten verfügten. Und Macht war immer sehr attraktiv – man musste sich ja bloß Lady Piedmont anschauen …
Wenn er also eine junge Dame verführen wollte, wäre das für ihn kein Problem. Ohne Zweifel hatte es schon viele Frauen in seinem Leben gegeben, und er wusste im Bett bestimmt ganz genau, was er tun musste …
Es überraschte sie, dass sie im Zusammenhang mit Damien Northfield über etwas so Unschickliches nachdachte wie seine sexuelle Anziehungskraft. Seit dem Debakel mit Arthur hatte sie es nicht mehr erlebt, dass ein Mann auch nur das geringste Interesse an ihr zeigte. Allerdings waren die Gelegenheiten seitdem auch nicht gerade zahlreich gewesen.
Dabei schienen alle ihr genau das Gegenteil zuzutrauen, und das versetzte ihr einen Stich. Ganz England sah sie als gefallene Frau, und wenn sie nicht aus einer so angesehenen Familie stammen würde und die Duchess nicht ihre schützende Hand über sie hielte, dann säße sie jetzt nicht auf einem Ball.
»Habt Ihr etwas gegen Lord Damien?« Lily hätte es noch vor ein paar Wochen nicht gewagt, eine so direkte Frage zu stellen. Aber inzwischen wusste sie, dass die ehrenwerte Eugenia viel zugänglicher war, als man auf den ersten Blick vermutete. Vielleicht betrachtete sie Lily ja als Ersatz für ihre Enkelin, die Jonathan aufs Land entführt hatte.
»Sir George ist als Kandidat sicher vielversprechender, meine Liebe.« Hellblaue Augen musterten sie prüfend, als wollte sie ihre Reaktion beurteilen. »Der Mann ist ernstlich interessiert. Ich habe von mehr als einer Person gehört, dass er das ganz offen zugibt.«
»Trotz meiner Vergangenheit? Wie anständig von ihm.«
Weil in ihren Worten Sarkasmus mitschwang, traf sie erneut ein missbilligender
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