Eine skandaloese Liebesfalle
hatte, nachdem Miss Edgerton gegangen war. „Ich brauche mein Etui mit den Visitenkarten.“
„Ich komme mit dir“, erwiderte Vere. „Ich habe gerade nichts Besseres zu tun.“
Stundenlang hatte er daran gearbeitet, den Code zu entschlüsseln, der in Douglas’ Dossier verwendet war. Er hatte die Karten mit den Buchstaben immer wieder neu angeordnet und dabei nach Mustern gesucht. Wenigstens war das sein erklärtes Ziel gewesen. Jedoch hatte er keinen Erfolg gehabt, und seine Konzentrationsfähigkeit war ohnehin den ganzen Tag über schon nicht die beste gewesen.
Außerdem lag Miss Edgerton immer noch irgendwo im Haus auf der Lauer.
„Warum brauchst du dein Kartenetui? Gehen wir jemanden besuchen?“, fragte er, während sie die Treppe hochstiegen.
„Nein“, antwortete Freddie. „Ich schreibe einen Brief an Leo Marsden. Er war in Indien, und nun kehrt er nach England zurück.“
„Wer?“
„Du erinnerst dich bestimmt an ihn - wir waren alle im selben Haus in Eton untergebracht. Ich habe seine Adresse bei meinen Karten.“
Nachdem sie in seinem Zimmer angekommen waren, öffnete Freddie die Schublade seines Nachttischchens, dann kratzte er sich am Kinn. „Das ist aber seltsam. Mein Kartenetui ist nicht hier.“
„Wann hast du es denn das letzte Mal gesehen?“
„Heute Morgen erst.“ Freddie runzelte die Stirn. „Vielleicht täusche ich mich auch. “
Freddie war wirklich liebenswürdig: Die meisten Herren hätten sofort die Dienstboten verdächtigt. Vere half Freddie bei der Suche, aber leider vergeblich.
„Du solltest es Miss Edgerton sagen, dass du es vermisst.“
„Ja, vermutlich sollte ich das.“
Aber sie sahen Miss Edgerton nicht wieder, bis alle anderen zum Tee zurückgekehrt waren und sich über das unterhielten, was sie heute erlebt hatten. Miss Edgerton brachte eine angemessene Mischung aus Erschrecken und Bestürzung zum Ausdruck, als sie von dem fehlenden Etui vernahm. Wie konnte so etwas nur in ihrem Hause geschehen? Sie versprach, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um das Kartenetui Lord Frederick aushändigen zu können.
Aber während sie ihn beruhigte und ihm in aller Unschuld versicherte, man werde es gewiss wieder finden, hatte Vere plötzlich sie im Verdacht. Was sie aber mit Freddies Kartenetui anfangen wollte, konnte er nicht erkennen. Er wusste nur, wenn sie nicht lächelte, war da eine gewisse Härte in ihren Augen - ja, beinahe Grimmigkeit.
Und er wusste, dass seine Instinkte beinahe immer recht behielten.
Lady Averys Verhalten beim Dinner verstärkte Veres ungute Vorahnung. Er kannte Lady Avery bestens: Ein Mann in seinem Betätigungsfeld wäre dumm, wenn er eine solche Quelle wichtiger Informationen nicht zu nutzen wüsste. Er kannte ihren Bluthundausdruck, die Augen halb zusammengekniffen, die Nasenflügel bebten, innerlich bereit, sich auf den nächsten saftigen Skandal zu stürzen, wenn sie die Fährte nur zu dem Ursprung der köstlichen Sensation zurückverfolgen konnte.
Etwas lag in der Luft. Das an und für sich war nicht bemerkenswert, wohl aber, dass es plötzlich in der Luft lag. Beim Tee noch hatte Lady Avery sich nicht anmerken lassen, dass sie irgendetwas witterte. Sie war zufrieden gewesen, Miss Melbourne und Miss Duvall mit Anspielungen aus der Welt des Klatsches zu quälen, die für ihre jungfräulichen Ohren nicht geeignet waren.
Was hatte Lady Avery in Alarm versetzt? Die Mädchen waren trotz ihrer Jugend und ihrer Lebensfreude nicht unbedingt eine skandalträchtige Gruppe. Miss Mel bournes Hauptinteresse galt ihrer Figur, Miss Duvalls der Musik. Miss Beauchamp hatte eine ausgeprägte Schwäche für ihren Cousin zweiten Grades, der gegenwärtig nicht anwesend war. Und Miss Kingsley war trotz ihres Flirts mit Conrad mehr an ihrer weiteren Ausbildung interessiert als an einer Eheschließung. Sie wurde im Oktober wieder auf Girton erwartet, der ersten höheren Schule für junge Damen.
Womit nur ihre Gastgeberin übrig blieb.
Vere blieb in Freddies Nähe. Aber nichts geschah. Das Dinner wurde eingenommen, schließlich war es beendet. Die Abendunterhaltung war gesetzt und züchtig. Die Damen zogen sich zu einer schicklichen Zeit zurück. Als die Uhr halb zwölf schlug, begann er zu glauben, dass er vielleicht doch ausnahmsweise überreagiert hatte. Dass das, was er seiner eigenen Wahrnehmung zugeschrieben hatte, am Ende doch nur wilde Einbildung war.
Dann jedoch betrat etwa zwei Minuten später ein schläfrig aussehender Lakai den
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