Eine skandalöse Versuchung
Hand.
Sie sah zu ihm auf; er begegnete ihrem Blick.
Einen Augenblick später sagte er sehr leise: »Gehen Sie rein.«
Es war zu dunkel, um seinen Gesichtsausdruck lesen zu können,
doch ihre instinktive Vorsicht gebot ihr, seiner Aufforderung Folge zu leisten. Den Kopf neigend, wandte sie sich der Treppe zu. Sie ging hinauf, öffnete die Tür, die noch immer angelehnt war, schlüpfte hindurch und schloss sie leise hinter sich - die ganze Zeit spürte sie seinen Blick auf sich ruhen.
Tristan, umzingelt von schwankenden Farnwedeln, ließ den Schlüssel in seiner Manteltasche verschwinden und beobachtete, wie ihre Silhouette im Haus verschwand. Er fluchte leise, wandte sich ab und schritt durch die tiefe Nacht davon.
4
Es war keineswegs das erste Mal in seiner Karriere, dass er einen taktischen Fehler begangen hatte. Er musste sich darüber hinwegsetzen, die ganze Sache ignorieren und seinen Plan, diese unglückselige Frau zu retten, unbeirrt weiterverfolgen; danach konnte er sich endlich seinem eigenen nervenaufreibenden Problem widmen, nämlich eine angemessene Gattin zu finden.
Als er am nächsten Morgen den Weg zum Haus der Carlings entlangschritt, sagte er sich diese Litanei im Geiste immer wieder auf, gestützt von der strengen Ermahnung, dass eine streitsüchtige, eigensinnige und entschlossen unabhängige Frau im vorgerückten Alter die allerletzte sei, die er als Gattin in Betracht ziehen sollte.
Auch wenn sie nach Ambrosia geschmeckt und sich in seinen Armen so verführerisch angefühlt hatte.
Wie alt war sie überhaupt?
Er näherte sich der Eingangstreppe und verdrängte die Frage aus seinem Kopf. Wenn dieser Vormittag tatsächlich so abliefe, wie er es sich vorstellte, dann tat er besser daran, sich eng an seinen Plan zu halten.
Am Fuß der Treppe blieb er stehen und blickte hinauf zur Tür. Er hatte sich die ganze Nacht über von einer Seite auf die andere gewälzt, und zwar nicht nur aufgrund der unweigerlichen Folgen
dieses unglückseligen Kusses, sondern vor allem, weil sein Gewissen ihn angesichts der übrigen Ereignisse des vergangenen Abends nicht hatte schlafen lassen. Was auch immer hinter dieser ganzen »Einbrecher«-Geschichte steckte, die Angelegenheit war in jedem Fall ernst. So viel verriet ihm seine Erfahrung; sein Instinkt bestätigte es. Auch wenn er keineswegs vorhatte, Leonora mit dem Problem allein zu lassen, war er ebenso wenig gewillt, Sir Humphrey und Jeremy weiterhin über das Ausmaß der Gefahr im Unklaren zu lassen.
Er war mit der festen Absicht hergekommen, den beiden die Situation in aller Deutlichkeit darzulegen. Es war immerhin deren gutes Recht, Leonora zu beschützen; waren seine Absichten auch noch so ehrenhaft, Tristan konnte diese Beschützerrolle nicht einfach an sich reißen, während er die beiden Männer außen vor ließ.
Mit gestrafften Schultern stieg er die Treppe hinauf.
Der uralte Butler öffnete ihm.
»Guten Morgen.« Er lächelte ihn mit seinem sprühenden Charme an. »Ich würde gerne mit Sir Humphrey und mit Mr Carling sprechen, sofern es den Herren gerade recht ist.«
Die starre Haltung des Butlers entspannte sich ein wenig; er zog die Haustür weit auf. »Wenn Sie solange im Frühstückszimmer warten möchten. Ich werde mich erkundigen.«
Tristan wartete in der Mitte des Raumes und hoffte inständig, dass Leonora von seiner Ankunft nichts mitbekommen hatte. Er würde sein Ziel gewiss leichter erreichen, wenn er mit den beiden Gentlemen allein sprach - ohne die störende Gegenwart einer Frau, die überdies den Hauptgegenstand ihrer Unterhaltung darstellen sollte.
Der Butler kehrte zurück und führte ihn in die Bibliothek. Als er eintrat, waren nur Sir Humphrey und Jeremy anwesend; er seufzte innerlich vor Erleichterung.
»Trentham! Herzlich willkommen!« Sir Humphrey saß wieder in demselben Sessel beim Kamin und hatte - Tristan war sich dessen relativ sicher - dasselbe schwere Buch auf dem Schoß wie zuvor;
er wies einladend auf die Chaiselongue. »Setzen Sie sich, setzen Sie sich. Und verraten Sie uns, was wir für Sie tun können.«
Jeremy blickte ebenfalls auf und nickte ihm zur Begrüßung zu. Tristan hatte den Eindruck, dass auf Jeremys Schreibtisch ebenfalls alles unverändert war, außer vielleicht der Buchseite, die er gerade studierte.
Jeremy bemerkte seinen Blick und lächelte. »Eine kleine Pause würde mir sicher ganz gut tun.« Er deutete auf den Band vor ihm. »Diese alte sumerische Schrift zu entziffern, ist verteufelt
Weitere Kostenlose Bücher