Eine Socke voller Liebe
bot.
Trotz der grandiosen Pyrenäenlandschaft zog sich der Aufstieg
endlos zäh dahin wie Kaugummi. Die schmale Straße wollte einfach kein Ende
nehmen, und die Sonne strahlte unablässig heiß und stechend vom wolkenlosen Himmel.
Hinter jeder Biegung vermuteten sie die Auberge, aber immer wieder wurden sie
enttäuscht. Es ging gnadenlos weiter bergauf.
Als endlich das mit dicken Steinen belegte Dach auftauchte,
konnten sie sich einen Freudenschrei nicht verkneifen.
Sie waren wie in Schweiß gebadet und schlagskaputt, aber
glücklich und stolz. Die erste Etappe hatten sie geschafft!
Sie betraten die gepflegte Herberge. Die junge Französin gab
ihnen unmissverständlich zu verstehen, dass sie zu spät seien und wies ihnen
zwei Schlafplätze in einem Zelt zu, da die Betten bereits alle belegt seien.
Sabine war entsetzt. Sie hatte seit ihrer Jugend nicht mehr in einem Zelt
geschlafen.
Sie schaute Andrea leicht enttäuscht und etwas verzweifelt
an: „Nein, so habe ich mir das nicht vorgestellt! Hoffentlich gibt es
wenigstens anständige Duschen. Außerdem muss ich bis auf die Wanderhose alles
waschen, was ich an habe. Es gibt kein trockenes Teil mehr an mir.“
„Wir machen die Handwäsche am besten zuerst, damit die Sonne
die Sachen noch ein wenig trocknen kann“, schlug Andrea vor.
Hinter dem Haus waren zwölf Zelte auf einem terrassenförmig
angelegten Hang aufgestellt. Vor fast allen standen bereits die Wanderschuhe
ihrer Bewohner. Innen auf dem Zeltboden lagen zwei dicke Matratzen mit warmen
Decken und Kissen. Für Rucksäcke und Wanderschuhe war im Vorzelt genügend
Platz. Nach dem Duschen ließen sich die beiden frisch gebackenen Pilgerinnen
erschöpft auf die Matten sinken.
„Einen Vorteil hat das Zelt ja“, wandte sich Sabine an ihre
Freundin, „wir sind allein. Einen Schlafraum müssten wir uns mit zehn anderen
Pilgern teilen. Das Vergnügen werden wir in den nächsten Wochen ja noch oft
genug haben.“
Andrea war bereits in einen kurzen Nachmittagsschlaf gefallen
und antwortete nur noch mit einem leisen Grunzen.
Als der Gong zum gemeinsamen Pilgermenü ertönte, hatten die
Frauen es sich gerade auf der Terrasse bequem gemacht und blickten über grüne
Tannen hinaus in die Berglandschaft.
„Nur keine Hektik“, meinte Andrea, Jetzt trinke ich erst in
Ruhe mein Glas leer.“
Folge war, dass sie als Letzte die rustikale Gaststube
betraten. Die meisten Gäste hier waren Franzosen. Viele schienen sich zu
kennen. Bis auf zwei leere Stühle an verschiedenen Tischen waren bereits alle
besetzt. Sabine und Andrea mussten sich also getrennt setzen. So ein Mist! Auch
noch zwischen lauter Franzosen, wo doch keine von ihnen französisch sprechen
konnte!
Heute lief wirklich alles nicht so, wie sie es sich
vorgestellt hatten.
Das heißt: ‚Wie hätten Sie’s denn gerne‘? gab es auf dem
Pilgerweg wohl nicht.
Außerdem: Hatten sie sich nicht vorgenommen, die Dinge so
anzunehmen, wie sie kommen?
„Ja, ja, ja“, meldete sich der kleine innere Schweinehund,
„ist ja schon gut.“
Das Essen war eine köstliche Entschädigung: Würzige Suppe mit
frischem, knackigem Gemüse, Bohneneintopf mit zartem Hammelfleisch in einer
pikanten dunklen Soße und warmer, baskischer Kuchen „gasto basque“ zum
Nachtisch. Dazu standen mehrere Flaschen Rotwein und Karaffen mit Wasser auf
den Tischen.
Nach dem Essen verließen die meisten Gäste den Raum. Die
Freundinnen konnten endlich zusammenrutschen.
Ein wenig berauscht vom Rotwein und von der Hitze und
Anstrengung des Tages philosophierten sie über die Erwartungen und Wünsche, die
jeder an das Leben hat und über die Realität, die diesen nur selten ganz
entsprach.
„Erinnerst du dich an den Vortrag, den wir vor zwei Wochen
besucht haben“, fragte Andrea, „und an das alte Ehepaar, das diesen Jakobsweg
schon zweimal gelaufen war?“
„Du meinst die beiden, die mit leuchtenden Augen ihre
Erlebnisse erzählten und uns rieten, den Pilgerweg nicht zu planen, sondern
jeden Tag dankbar anzunehmen und einfach loszulaufen, die gelben Pfeile nicht
zu übersehen und aufmerksam auf alles zu achten, was unterwegs passiert.“
Andrea erinnerte sich: „Genau! Der Mann hat gesagt: ‚Es
geschehen manchmal Dinge auf diesem Pilgerweg, die die Menschen verwundern. Sie
reden dann von unerklärlichen Zufällen. Geschehnisse fügen sich hier mehr als
anderswo zusammen. Vielleicht erscheint das aber auch nur so, weil sie
nirgendwo sonst so aufmerksam wahrgenommen werden.
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