Eine Socke voller Liebe
gestern Abend hier angekommen und haben uns heute
den ganzen Tag Zeit für diese herrliche Stadt genommen. Sebastian und Hubert
sitzen an der Flaniermeile des Rio Arlanzón und gönnen sich ein Bierchen“,
erzählte Michael. „Ich freue mich, euch zu sehen, aber leider bin ich jetzt ein
bisschen in Eile. Ich muss noch schnell zu einer Bank, bevor sie schließt.
Wollen wir heute Abend vielleicht zusammen essen gehen?“
„Ja klar, gerne“, antwortete Andrea sofort, „hast du einen Vorschlag?“
„Am Fluss unten gibt es einige nette Restaurants. Ich schlage
vor, dass wir uns um sieben Uhr hier an der Kathedrale treffen und dann
gemeinsam dorthin gehen.“
„Das ist eine gute Idee.“
Michael eilte mit großen Schritten davon und Andrea hing sich
bei Sabine ein, um mit ihr durch die Einkaufsstraßen zu bummeln.
Am Abend saßen die fünf Peregrinos unter dem grünen
Blätterdach einer riesigen Platane und bestellten eine Morcilla. Diese deftige
Spezialität der Region mit Reis, vielen Zwiebeln, Pfeffer und gebratener
Blutwurst musste unbedingt probiert werden. Als Nachtisch wählten sie Quesos de
Burgos, einen Frischkäse mit Honig und Nüssen.
Während sie sich angeregt unterhielten, bemerkte Sabine, dass
ihre Freundin ungewöhnlich schweigsam war. Sie, die normalerweise locker und
selbstbewusst auftrat, wirkte plötzlich irgendwie verkrampft. Sie prostete ihr
deshalb mit einem Glas Rotwein zu und fragte leise: „Alles in Ordnung bei dir?“
„Ja natürlich“, lachte sie und nahm einen großen Schluck,
bevor sie sich betont unbeschwert in das Gespräch über die Erlebnisse und
Geschichten auf dem Jakobsweg einmischte.
Die lustigen Erzählungen der Pilgerfreunde und vielleicht
auch der leckere Wein lösten im Laufe des herrlichen Sommerabends auch Andreas
Anspannung wieder.
Sie saß Michael gegenüber und blickte in seine Augen, mit
denen er sie unverwandt anzulächeln schien. Sie sah seine hellen Lachfalten,
die sich von der gebräunten Gesichtshaut abhoben und den herben Zug um seine
Mundwinkel. Sie sah sein markantes Kinn und den Dreitagebart, in dem sich viele
silbergraue Stoppeln breit machten, die bis zu den Schläfen reichten. Im
Lampenlicht blitzten hier und da ein paar graue Strähnchen zwischen seinen
leicht gewellten, dunklen Haaren auf. Wenn er lachte, verschwand die Strenge
aus seinem Gesicht. Sein jungenhaftes Grinsen zog sich dann bis hin zu den
Ohren.
Ja, er sah verdammt gut aus. Fröhlich grinste sie zurück. Im
gleichen Moment wurde ihr bewusst, dass sie sich bereits eine ganze Zeitlang
schweigend anschauten. Das gegenseitige Wahrnehmen hatte sich in eine intensive
Nähe verwandelt, und sie war dabei, in dieser Nähe zu versinken. Er war ihr auf
einmal so vertraut. Ja, am liebsten würde sie sich fallen lassen in dieses
Gefühl von Nähe und Vertrautheit. Sie spürte die Wärme seiner Hand, die sanft
ihre Finger umschloss. Sein leichtes Streicheln löste wohlige Schauer in ihr
aus. Seine Augen sagten mehr als Worte es hätten ausdrücken können.
Doch dann durchfuhr es sie wie ein Ruck: Er war verheiratet!
Der Schreck löste den lange antrainierten Schutzmechanismus
aus, der sie gnadenlos an ihr selbst auferlegtes Liebesverbot erinnerte.
Mit rigoroser Entschlossenheit straffte sie ihren Körper und
setzte sich kerzengerade hin. Hastig zog sie ihre Hand weg und zeigte nervös
auf einen kleinen weißen Hund, den eine alte Dame auf der Promenade spazieren
führte.
Mit belegter Stimme stotterte sie: „So, so einen kleinen
weißen Hund wollte meine Tochter auch immer haben.“
Michael war irritiert. Er hatte das Minenspiel in ihrem
Gesicht beobachtet. Für ihn war sie von einer Sekunde zur anderen von einer
liebenswerten Frau zu einem abweisenden Eisklumpen erstarrt.
„Sei froh, dass du ihr keinen gekauft hast“, erwiderte er mit
einem scharfen Unterton in der Stimme, der seine Erregung und Verunsicherung
ausdrückte, „unser Fabian ist von einem Auto überfahren worden, als er seinem
jungen Hund nachgelaufen ist.“
Er hatte so laut und schneidend gesprochen, dass
augenblicklich alle am Tisch verstummten.
Andrea starrte Michael fassungslos an.
„Tut mir leid“, murmelte sie leise.
„Wie schrecklich!“, entfuhr es Sabine, und dann sprach
niemand mehr. Um die bedrückende Stille zu unterbrechen, fragte sie nach einer
Weile: „Wann ist das denn passiert?“
Michael räusperte sich, bevor er antwortete: „Eigentlich wollte
ich darüber nicht reden. Aber gut. Jetzt habe
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