Eine Socke voller Liebe
ich uns die Stimmung sowieso
vermiest, tut mir leid. Es ist etwas mehr als drei Jahre her.“
Er rutschte auf seinem Stuhl herum, so als müsse er sich erst
richtig hinsetzen, um eine kurze Bedenkzeit einzulegen. Dann nahm er einen
großen Schluck Rotwein aus seinem Glas und begann langsam zu erzählen: „Wir
hatten Fabian zu seinem zehnten Geburtstag einen sehnlichen Wunsch erfüllt und
einen jungen Cockerspaniel gekauft. Fabian und ich sind zusammen mit dem Hund
spazieren gegangen, als ich einen Bekannten getroffen habe. Ich bin kurz stehen
geblieben, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Fabian hielt den Hund an der
Leine. Plötzlich raste eine Katze an uns vorbei, und der Hund sprang hinterher.
Fabian natürlich mit. Die Leine hatte sich in Windeseile abgerollt. Fabian ließ
sich ziehen. Ich habe geschrien, er soll die Leine loslassen und stehen
bleiben. Aber er hat nur gelacht. Er hatte seinen Spaß. Ich bin wie wild hinter
den beiden hergerannt, habe sie aber leider nicht früh genug eingeholt.“
Er machte eine Pause und strich sich mit der Hand über die
Augen. „Fabian und der Hund bogen auf der Straßenmitte in eine Seitenstraße ab.
Wenige Augenblicke später hörte ich es krachen. Sie sind beide von einem
entgegenkommenden Auto erfasst worden. Fabian war sofort tot.“
Betroffene Stille herrschte, als Michael geendet hatte.
Er nahm ein Taschentuch und schnäuzte sich, bevor er sagte:
„So, jetzt wisst ihr es.“ Dann trank er sein Glas leer und fügte hinzu: „Ich
glaub, ich gehe jetzt besser.“
Er stand auf, legte einen Geldschein auf den Tisch, murmelte
noch ein „gute Nacht“ und wandte sich ab.
Sebastian war ebenfalls aufgestanden: „Ich komme mit dir. Es
ist nicht gut, wenn du jetzt alleine gehst. Hubert, bezahlst du bitte für mich
mit?“
„Klar, kein Thema.“
Die beiden Männer verließen gemeinsam den Platz.
Hubert sah zu den beiden Frauen, die ziemlich ratlos mit ihm
am Tisch zurückgeblieben waren. „Michael hat immer noch sehr mit seinen
Schuldgefühlen zu kämpfen“, begann er, „und wir wünschen ihm sehr, dass er sich
bald selbst verzeihen kann und einsieht, dass er diesen Unfall nicht verhindern
konnte. Es hat so sein sollen. Aus welchem Grunde auch immer.“
Eine bedrückende Stimmung hatte sich zwischen ihnen breit
gemacht. Nach einer Weile fragte Andrea: „Was ist mit seiner Frau?“
„Ach Gott, das ist alles sehr tragisch. Sie hat ihm schlimme
Vorwürfe gemacht und ihm die Schuld am Tod ihres Kindes gegeben. Das ist ja das
Dilemma! Diese Belastung hat ihre Ehe natürlich nicht lange ausgehalten. Sie
haben sich vor zwei Jahren getrennt.“ Er winkte nach der Bedienung. „Ich werde
jetzt auch bezahlen und in unsere Herberge gehen. Eigentlich schade, dass ein
so schöner Abend in so trauriger Stimmung enden muss. Aber so ist das Leben.
Heute so und morgen so.“
Als die Kellnerin kam, bezahlten sie alle drei und verließen
gemeinsam das Lokal.
„Morgen wollen wir sehr früh aufstehen“, erzählte Hubert,
„vielleicht begegnen wir uns ja anderswo noch einmal.“
„Ja, das wäre schön“, erwiderte Andrea leise.
Sie waren bald am Domplatz angekommen und Hubert
verabschiedete sich, um in die kleine Pension zu gehen, in der er mit seinen
Freunden übernachtete.
Andrea zögerte einen Moment, bevor sie sagte: „Grüß Michael
bitte von mir und sag ihm, dass es mir leid tut.“
„Ja, das mache ich gern“, versprach Hubert.
Sabine kannte ihre Freundin gut genug, um zu wissen, dass sie
ihr jetzt keine Fragen stellen durfte. Andrea würde irgendwann von selbst
reden, wenn sie mit sich im Reinen wäre.
16.
Schutzengel
Die Freundinnen saßen nebeneinander in der voll besetzten
Kathedrale. Sie hatten gestern Abend beschlossen, sich dieses musikalische Meisterwerk
nicht entgehen zu lassen, das auf großen Plakaten angekündigt wurde: Die „Missa
solemnis“ von Ludwig van Beethoven.
Die Orgel ertönte und das Domkapitel zog in die Kirche ein.
Nach dem aufregenden Tag hatten beide Frauen schlecht
geschlafen, und genossen deshalb dieses musikalische Erlebnis besonders. Sie
ließen sich von der Macht der Musik ergreifen, die ihnen abwechselnd Gänsehaut
und wohlige Schauern bescherte.
Es war fast Mittag, als sie Burgos verließen.
Hinter der Stadt warteten die riesigen Getreidefelder der
Meseta auf die Pilgerinnen. Bis Leon sollten jetzt Flachheit und Eintönigkeit
auf ihrem Weg dominieren, so die Auskunft des Reiseführers. Das waren
einhundertachtzig
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