Eine Socke voller Liebe
gesehen.
Die Freundinnen quartierten sich in einer großen, neuen
Herberge ein. Hier waren zweihundertfünfzig Schlafplätze auf sechs Ebenen
untergebracht. Im Obergeschoss bekamen sie zwei obere Stockbetten
nebeneinander.
Es waren fast nur jüngere Leute in diesem Saal und die Frauen
freuten sich auf eine schnarchfreie Nacht; denn das hatten sie inzwischen
festgestellt: Junge Männer schnarchten bei weitem nicht so laut wie alte.
Andrea sah ihn zuerst: Den Mann mit dem Cowboyhut, der mit
einem Nummernzettel in der Hand nach seinem Bett suchte. Er fand es. Es stand
ihrem Bett gegenüber. An seinem Rucksack baumelten Sabines Wanderschuhe.
„Das glaub ich jetzt nicht!“, entfuhr es ihr und dann rief
sie: „Sabine, schau mal zu unserem neuen Bettnachbarn rüber. Es gibt doch blaue
Mäuse!“
Sabine, die gerade ihren Schlafsack auf der Matratze
ausbreitete, drehte sich um und lehnte sich über das Fußende nach unten. Sie
traute ihren Augen nicht.
„Hallo, du da!“, rief sie dem Neuankömmling zu, „könnte es
sein, dass das nicht deine Schuhe sind, die da am Rucksack baumeln?“
Der Cowboyhut drehte sich um: „Ja! Wieso? – Sind das etwa
deine?“
„Sieht ganz so aus“, Sabine kletterte vom Bett hinunter.
Der Mann hatte seinen Rucksack inzwischen gegen das Bett
gelehnt und begann, die Schuhriemen zu lösen.
„Ja, dann haben wir ja wohl beide Glück gehabt. Es tut mir
furchtbar leid, dass mir das passiert ist“, bedauerte er mit einem Achselzucken
und stellte die Schuhe vor Sabine auf den Fußboden. „Ich bin heute Morgen in
meinen Wandersandalen losgezogen und habe erst unterwegs bemerkt, dass die
Halbhohen nicht meine Schuhe sind. Aber da war es bereits Mittag und zu spät,
um zurückzulaufen.“
„Und wie bekommst du jetzt deine Schuhe zurück?“, fragte
Sabine.
„Ich habe bereits im Kloster angerufen. Ein Pater hat morgen
in Burgos einen Termin. Er kommt mit dem Auto hierher und bringt meine Schuhe
mit. So, und jetzt spiel mal Aschenputtel und probiere die Schuhe an, damit ich
auch sehe, dass es deine sind“, forderte er sie grinsend auf.
„Das sehe ich auch so, ohne sie anzuprobieren.“ Sie zögerte
einen Moment, schob dann aber doch einen Fuß in ihren Wanderschuh. „Ach, ist
das ein gutes Gefühl!“, freute sie sich. „Ich hatte schon fest damit gerechnet,
dass ich mir neue kaufen muss.“
„Nein, nein, aber nicht hier auf dem Jakobsweg. Da findet
wieder zusammen, was zusammen gehört. Das ist die Kraft des Caminos“,
behauptete er und fügte hinzu, „darf ich dich heute Abend zu einem Drink als
kleine Entschädigung einladen?“
„O nein, danke. Das ist sehr nett, aber wir haben schon etwas
anderes vor“, beeilte Sabine sich zu sagen.
„Schade“, meinte er mit einem smarten Lächeln, „ich hätte
gerne mal wieder eine so hübsche Frau an meiner Seite gehabt.“
Sabine murmelte ein leises „Danke“, während sie ihre
Wanderschuhe unter das Bett stellte. Dann blickte sie zu Andrea und fragte:
„Gehen wir?“
Als sie die große Treppe hinunter liefen, die auf den
Domplatz führte, bemerkte sie ein wenig aufgebracht: „So ein arroganter
Schnösel! Der hatte so ein siegessicheres Grinsen im Gesicht, als erwarte er,
dass ich ihm um den Hals falle, weil er meine Schuhe vertauscht hat.“
„Ich fand ihn ganz lustig“, sagte Andrea und hakte sich ein,
„aber schön, dass wir jetzt allein ein bisschen Kultur schnuppern und einen
Stadtbummel machen können. Da stört so ein Mann doch nur.“
Sie besichtigten die berühmte Kathedrale und das Dommuseum.
Schon von außen begeisterten sie die Steinmetzarbeiten und die reich verzierten
Portale.
Im Inneren warf die Nachmittagssonne helles Licht durch die
bunten, eindrucksvollen Glasfenster. Die Frauen ließen sich viel Zeit für die
wunderschönen und beeindruckenden Kostbarkeiten kirchlicher Baukunst.
Einige Stunden später schlenderten sie zurück über den großen
Domplatz, um nach dem kulturellen Besichtigungsteil jetzt die kleinen Gassen
mit ihren alten Häusern und Geschäften zu inspizieren.
Sabine stieß ihre Freundin kurz mit dem Arm an: „Hast du
schon gesehen, wer uns da entgegenkommt?“
„Nein. Wo? – Ach, da… Das ist ja Michael!“
Im gleichen Augenblick sah auch Michael die Frauen auf sich
zukommen. Sichtlich überrascht standen sie sich ein paar Sekunden später
gegenüber.
„Wo kommst du denn her?“, fragte Andrea erstaunt, „wir
dachten, ihr wäret längst hinter Burgos.“
„Wir sind
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