Eine Socke voller Liebe
„Ich
glaube, außer uns ist hier niemand unterwegs.“
Leise antwortete Sabine: „Vielleicht haben sie alle Angst vor
dem Alleinsein und wissen gar nicht, was ihnen entgeht.“
Andrea nickte zustimmend mit dem Kopf: „Oft ist es unsere
Angst, die uns daran hindert, Dinge zu tun, die eigentlich gut für uns wären.“
„Meinst du auch die Angst vor Neuem und die Angst vor
Enttäuschungen?“
„Auch die.“
Sabine fragte nicht weiter.
Sie horchte wieder hinein in die andächtige Stille, die ihr
innere Ruhe und Frieden schenkte. Diese unendliche Weite hatte etwas traumhaft
Schönes und Beruhigendes.
Sie war dankbar für jeden Augenblick.
Sabine wünschte sich, dass dieses Gefühl sie nie mehr
verlassen sollte. Sie genoss jede Sekunde und fühlte sich Gott so nahe, wie
noch nie in ihrem Leben. Ihre Gedanken formulierten ein Gebet, ohne dass sie
nach Worten suchen musste.
Später sagte sie einmal über dieses Stück ihres Pilgerweges:
„Ich glaube, dort bin ich dem lieben Gott begegnet, und er hat mich ein Stück
weit getragen.“
Nach fünfstündiger Wanderung durch diese Einsamkeit endete der
Schotterweg abrupt in einer sandigen Großbaustelle, die den Ausbau eines
riesigen Straßennetzes vermuten ließ. Die großen Baufahrzeuge und Lastwagen
standen verlassen herum.
Immer noch war weit und breit kein Mensch zu sehen.
Nur ein gelber Pfeil auf einem dicken Stein zeigte an, dass
der Jakobsweg hierher verlief.
Der Himmel bewölkte sich immer mehr. Das Blau verschwand und
mit ihm die Sonne. Kalter Wind kam auf.
Andrea und Sabine holten ihre Vliesjacken aus den Rucksäcken
und merkten plötzlich, dass ihre Beine und Füße schmerzten und der Rücken müde
war.
„Das ist ja total krass“, Andrea schüttelte den Kopf, „ich
fühle mich, als wäre ich mit einem Plumps vom Himmel auf die Erde gefallen.“
„Und ich fühle mich so, wie Eva sich wahrscheinlich nach der
Vertreibung aus dem Paradies gefühlt hat“, ergänzte Sabine.
Der Wind wurde immer stärker und ein unangenehmer Nieselregen
fegte ihnen ins Gesicht.
Nass und frierend erreichten sie eine halbe Stunde später
eine Herberge.
Sabine war immer noch wie in Trance. Selbst die heiße Dusche
und das gute Essen änderten daran nur wenig.
Sie war froh, als sie in ihren Schlafsack kriechen und mit
ihren Gefühlen allein sein konnte.
23.
Wiedersehen
Es hatte die ganze Nacht geregnet. Andrea öffnete die
Eingangstür und reckte ihre Nase nach draußen. Feuchte Luft und kalter Wind
wehten ihr entgegen.
Wie eine Wohltat erschien ihr danach der heiße Kaffeeduft,
der den Aufenthaltsraum erfüllte.
Sabine nahm ihre Tasse in beide Hände und sah durch das
Fenster: „Wenn ich mir das Wetter so ansehe, bekomme ich direkt Lust, in den
nächsten Bus zu steigen und bis León zu fahren anstatt zu laufen.“
Andrea grinste bei diesem Vorschlag: „Daran habe ich auch
gerade gedacht. Im Flur hängt ein Fahrplan. Ich werde gleich mal nachsehen,
wann die Busse fahren.“
Als sie eine Stunde später in den Omnibus einstiegen, winkte
ihnen aus der hintersten Reihe jemand zu. Es war Bernard.
Die Frauen kletterten über mehrere Rucksäcke durch den voll
besetzten Bus und fanden in der vorletzten Reihe noch zwei freie Plätze.
„Hallo, ihr zwei“, begrüßte Bernard sie fröhlich, „das ist
Ronan“, er wies mit der Hand auf einen schlaksigen, jungen Mann, der neben ihm
saß, „er kommt aus Irland. Ich hab ihm schon von euch erzählt und von Corinna.“
Ronan drückte ihnen mit einem festen Griff die Hand zur
Begrüßung.
Andrea strich sich über die Finger und sagte: „Mit ihr
treffen wir uns im Benediktinerkloster in León.“
„Das ist schön, dann kann ich sie sicher auch noch einmal
sehen. Schade, dass sie schon bald nach Hause fliegen muss. Sie ist so ein
nette junge Frau und hat mir viel geholfen. Ronan und ich schlafen nicht bei
die Nonnen. Wir haben ein Hotel gebucht für zwei Tage“, erzählte Bernard mit
einem strahlenden Lächeln im Gesicht.
Der Bus fuhr ab und ließ keine weitere Unterhaltung zu.
Es nieselte immer noch, als die vier in León ausstiegen, um
gemeinsam vom Bahnhof in die Altstadt zu laufen.
Bernard war in einer Erzählerlaune, wie sie die Frauen an ihm
noch nicht kennengelernt hatten. Er redete und lachte und hatte nur noch wenig
von dem unbeholfen und unglücklich wirkenden „dicken Schnarcher mit dem roten
Sack“, dem sie in Roncesvalles zum ersten Mal begegnet waren.
Am Nachmittag machten sich die Freundinnen
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