Eine Socke voller Liebe
Eineinhalbliterflaschen
Wasser.
Mit prall gefüllten Rucksäcken verließen sie den Ort.
Ein Traktor kam ihnen entgegen, auf dem ein altes, spanisches
Paar saß. Die Freundinnen grüßten im Vorbeigehen mit „buenos dias“ und die
beiden Alten lachten freundlich zurück. Der Mann hielt abrupt das Gefährt an,
während die Frau ihnen etwas Unverständliches zurief. Sie kletterte von ihrem
Traktorsitz herunter und lief laut lamentierend hinter ihnen her, so dass sie
stehen blieben.
Die alte Spanierin strahlte sie aus ihren dunklen Augen an
und ihr freundliches Lächeln zog sich über das ganze sonnengegerbte und faltige
Gesicht. Dabei griff sie in ihre Schürzentasche und holte für jede eine
Handvoll frischer Feigen heraus. Als sie ihnen einen „buen camino“ wünschte,
hatten die Freundinnen das Gefühl, einem besonderen Menschen begegnet zu sein.
Dann begann die einsame Ebene in 830m Höhe. Anfangs wuchsen
noch Büsche, Buchsbäume und knorrige Eichen aus der roten Erde und eine
Zeitlang waren auch die Bergketten noch schemenhaft in der Ferne zu erkennen.
Aber bald verschwand all das vom Horizont.
Auf einem Feld standen ein Mähdrescher und andere
landwirtschaftliche Geräte. Sie waren letzte Zeichen menschlicher Behausung.
Unentschlossen blieben Sabine und Andrea an einer Weggabelung
stehen und suchten vergeblich die gelben Pfeile zur Orientierung, als ihnen
noch einmal ein Traktor entgegen kam. Der schwarz gelockte Fahrer wies ihnen
den richtigen Weg.
„Der erinnerte mich an den ‚Engel mit den Feigen‘, der uns am
Anfang der Meseta begegnet ist. Erinnerst du dich?“, fragte Sabine.
„Vielleicht ist es ja unser Schutzengel, der uns den
richtigen Weg zeigen und auf uns aufpassen soll“, antwortete Andrea lachend.
„Schön wär‘s.“
„Glaub einfach dran, dann ist es so.“
Nach einigen Kilometern ging die steppenartige Landschaft in
gelbe Stoppelfelder und rotbraunes Brachland über.
Soweit das Auge reichte und in alle Himmelsrichtungen
erstreckte sich das gleiche Bild. Sie befanden sich wie auf einer riesigen
Scheibe über die jemand ein rundes Zelt gespannt hatte. Das Blau des Himmels
wurde von vielen dicken, weißen Wolken unterbrochen. Der leichte Wind trieb sie
vor sich her. Er spielte mit ihnen und zauberte bizarre Wolkenbilder.
Die beiden Freundinnen liefen nebeneinander her. Irgendwann
verstummte ihr belangloses Wortgeplänkel.
Es war still geworden. Alles war still geworden.
Sie waren umgeben von Monotonie, Einsamkeit und absoluter
Stille.
Die Luft war angenehm warm.
Der leichte Wind hatte keine Stimme.
Die Stoppelfelder leuchteten wie ein gelbes Meer mit
rotbraunen Untiefen. Der schnurgerade Schotterweg führte mittendurch.
Die blauweiße Kuppel stülpte sich wie ein schützendes Dach
darüber.
Sabine drehte sich immer wieder um ihre eigene Achse und
konnte sich nicht satt sehen. Rundum versanken Weiß und Blau in Gelb und Braun.
Weder ein Baum noch ein Strauch unterbrach die unvorstellbare Weite bis zum
Horizont.
Sonne und Wolken warfen in ständigem Wechsel Licht und
Schatten auf die Felder.
Die Wolken zogen so niedrig über ihren Köpfen hinweg, dass
die Pilgerinnen meinten, wenn sie sich nur genug recken würden, könnten sie sie
mit ihren Wanderstöcken berühren.
Die Luft, die sie atmeten, fühlte sich hier anders an als
sonst wo. Sie schien zu vibrieren und umfing sie wie ein sanft streichelnder
Hauch, in dem sie sich geborgen fühlten.
Andrea blieb stehen und Sabine sah ihre Freundin wie durch
einen Schleier an. Wortlos fielen sie sich in die Arme und hielten sich lange
eng umschlungen. Keine von ihnen sprach ein Wort.
Sie wurden überwältigt von einem intensiven Gefühl der
Freiheit, Liebe und Dankbarkeit.
Sabine hätte die ganze Welt umarmen können und breitete ihre
Arme aus. Aber sie reichten nicht weit genug, um all das Glück auszudrücken,
was sie in diesem Moment empfand.
Sie fühlte sich wie in einer anderen Welt. Ihr Rucksack war
federleicht, und die Füße schienen über den Schotter zu schweben. Es schmerzte
kein Knöchel, kein Knie und keine Schulter.
Die Freundinnen liefen und liefen und verloren ihr Zeitgefühl
auf diesem schwerelosen Weg durch die Einsamkeit, dem Himmel zum Greifen nah.
Es war wie ein Stückchen Ewigkeit. Wie auf dem Weg zu einer
großen Liebe.
Langsam und vorsichtig setzten sie sich an den Wegrand, so
als hätten sie Angst, die Stille zu vertreiben.
Während sie ihr Picknick ausbreiteten, flüsterte Andrea:
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