Eine Socke voller Liebe
aufmerksamer
Gastgeber, und die Freundinnen fühlten sich wie Ehrengäste behandelt. Er hing
ihre Jacken an die Garderobe und wies ihnen einen hübschen Fensterplatz in der
Ecke zu. Während er die Stühle zurechtrückte, sparte er nicht mit anerkennenden
Worten für die lange Wanderung der deutschen Pilgerinnen.
Das leckere Menü bestand aus einer Kartoffelsuppe mit
Rindfleisch, einem großen Salatteller, gegrilltem Lachs mit Knoblauchsoße und
Pommes frites und einem Dessert aus Milchreis mit Zimtzucker, einschließlich
einer hervorragenden Flasche Rotwein.
Nach dem Espresso drängte die Zeit. Im Dauerlauf liefen sie
durch die nächtliche Stadt, um rechtzeitig in der Herberge zu sein. Schnaufend
und außer Atem standen sie eine Minute vor zehn an der Pforte. Einer der
Jugendlichen, die auf der Treppe saßen, grinste sie an und erklärte ihnen, dass
sie sich umsonst beeilt hätten, weil die Herberge erst in einer Stunde
schließen würde.
„Und nun?“, fragte Sabine.
„Gehen wir halt noch auf einen Schluck nebenan in die Bar“,
schlug Andrea vor, „mit meinem vollen Bauch kann ich jetzt sowieso noch nicht
schlafen.“
Sie betraten das dunkle Lokal. Helles Scheinwerferlicht
schien nur auf einen jugendlichen Rapper, der sich bemühte, seine Arme und
Beine mit der lauten Musik in Einklang zu bringen. Ab und zu gelangen ihm dabei
kurze Sätze im Sprechgesang. An der schwarz glänzenden Theke standen zwei
Männer, die den Eintretenden den Rücken zuwandten. Es waren Bernard und Ronan.
Andrea tippte dem Holländer auf die Schulter. Er drehte sich
um und freute sich offensichtlich über das unverhoffte Wiedersehen. Der junge
Ire dagegen lächelte sie etwas distanziert an.
„Ich bin ja total überrascht“, wunderte sich Andrea, „euch
hier schon wieder zu treffen.“
„Ja, ja, Ronan ist die ganze fünfzig Kilometer von León bis
hier in zwei Tagen gelaufen, aber ich schaffe einfach nicht mehr als fünfzehn
Kilometer pro Tag. Ich bin doch nicht so gut zu Fuß wie ich dachte, leider“,
Bernard zuckte mit den Schultern, „hatte neue Blasen an die Füße und bin heute
wieder mit die Bus gefahren. Aber das macht nix. Die letzten einhundertzwanzig
Kilometer laufen wir ganz bestimmt zusammen. Das hab ich Ronan versprochen.
Morgen fahren wir nach Sarria, schlafen in ein schöne Hotel, und dann laufen
wir zusammen bis Santiago.“ Er strahlte Ronan an und klopfte ihm
freundschaftlich auf die Schulter.
„Wo übernachtet ihr jetzt?“, fragte Andrea.
„Wir haben ein kleines Pension in die Altstadt gefunden“, gab
Bernard bereitwillig Auskunft.
Die Frauen orderten ein Cerveza con limòn und suchten sich
einen Sitzplatz, der möglichst weit von den Lautsprechern entfernt war.
Andrea nahm einen großen Schluck von dem kalten Getränk.
„Wenn die beiden sich nicht gesucht und gefunden haben, fresse ich einen Besen
mit Stiel“, vermutete sie.
„Meinst du? Na ja, Bernard ist wirklich kaum
wiederzuerkennen. Er hat mächtig abgespeckt, und seine Traurigkeit scheint sich
in Lebensfreude verwandelt zu haben.“
„Vielleicht erfahren wir ja noch, was die beiden zusammen
gebracht hat.“
„Die Liebe, die Liebe ist eine Himmelsmacht…“ sang Sabine
leise den Schmachtfetzen aus einer Operette.
„Hör auf“, bat Andrea lachend, „sonst wirst du hier noch
engagiert.“
„Es ist doch viel zu laut, da kann niemand meinen Gesang hören.“
„Ja, hier ist es wirklich sehr ungemütlich und laut.“
„Und deshalb leere ich mein Glas jetzt ganz schnell und
husche rüber in mein Bett. Dann hab ich auch noch Zeit genug, um meinen Fuß in
Ruhe zu salben und zu wickeln, bevor das Licht ausgeht.“
26. Garderobenprobleme
In der Nacht ging es Sabine schlecht. Sie schleppte sich ins
Bad und musste das gute Pilgermenü in der Kloschüssel versenken. Hatte sie zu
viel des Guten verzehrt!? Oder war die ständige Überanstrengung Grund für
Übelkeit und Kreislaufprobleme? Andere Pilger hatten von ähnlichen Beschwerden
berichtet. Immerhin waren sie auch gestern wieder über dreißig Kilometer
gelaufen.
„Heute gehen wir nicht so weit“, signalisierte Sabine deshalb
ihrer Freundin beim Aufbruch am nächsten Morgen.
„Schau‘n wir mal“, erwiderte Andrea, während sie auf die
Kathedrale von Astorga zulief.
Sie blieben vor dem unmittelbar daneben errichteten früheren
Bischofspalast stehen. Dieses von Antonio Gaudi erbaute Schloss beherbergt
heute das museo de los caminos und ist eine besondere Sehenswürdigkeit.
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