Eine Socke voller Liebe
Menschen kamen ihnen entgegen oder eilten an
ihnen vorbei. Sie hatten die Altstadt von Santiago de Compostela erreicht.
Plötzlich rief Andrea: „Da ist die Kathedrale!“
Die Türme der großen Kirche ragten über alte Hausdächer
empor. Endlich!
Durch die Porta do Camino, einem der sieben alten Stadttore,
gelangten die beiden Freundinnen in den historischen Teil der Pilgerstadt. Ein
eigentümliches Gefühl krabbelte in ihnen hoch. Es hatte etwas von allem: Ein
bisschen Traurigkeit, aber auch Freude; ein bisschen Neugier, aber auch
Gelassenheit; ein bisschen Stolz, aber auch Erleichterung.
Sie hatten es geschafft!! Sie waren achthundert Kilometer
gepilgert!!!
Langsam liefen sie über das Kopfsteinpflaster auf die
Kathedrale zu. Eine freundliche, ältere Spanierin kam auf sie zu und lud sie
ein, bei ihr zu übernachten. Das frisch renovierte Appartement in ihrem Haus
stünde ihnen zu einem günstigen Preis zur Verfügung.
Überrascht sahen sich die Freundinnen an. Das hörte sich ja
wirklich vielversprechend an.
„Wir kommen am Nachmittag vorbei. Jetzt wollen wir erst in
die Kathedrale“, versprach Andrea der sympathischen Frau, die sich
verabschiedete und ihr eine Visitenkarte in die Hand drückte.
„Na, das ist ja wohl super! Wenn das Appartement so nett ist
wie seine Besitzerin, brauchen wir uns um einen Schlafplatz nicht mehr zu
kümmern“, freute sich Sabine.
Viele Pilger und Touristen bevölkerten den riesigen Platz vor
der großen Kathedrale, der als einer der schönsten in ganz Europa gilt.
Langsam stiegen die Freundinnen die große Treppe zum
imposanten Hauptportal der Pilgerkirche hinauf.
Ein wenig zögernd betraten sie das Gotteshaus und standen vor
der von Millionen Pilgerhänden abgegriffenen Säule, die die Statue des Heiligen
Jakobus trug. Sie verfehlte ihre Wirkung nicht. Aufrecht und schlicht thronte
die wunderschön geformte Figur auf dem mit Ornamenten geschmückten Pfeiler. Ihr
Gesicht schien Güte und Liebe auszustrahlen.
Die Freundinnen berührten nacheinander die steinerne Säule
und legten ihre Hand in den von Millionen Pilgerhänden blank geriebenen
Abdruck.
„Wir sind angekommen!“, sagte Andrea und sah ihre Freundin
mit Tränen in den Augen an.
„Was immer das bedeuten mag“, erwiderte Sabine und umarmte
Andrea fest. Für einen Moment spürte sie so etwas wie eine feierliche Stimmung
in sich aufkommen. Aber dieser Augenblick verging sofort wieder.
Die Kirche war voll mit Menschen. Pilger und Touristen
schlurften und schlenderten zu Hunderten durch die Kathedrale. Ein
gleichmäßiges Gemurmel erfüllte das große Kirchenschiff.
Auf dem prunkvollen, goldenen Hochaltar wartete ein mit Gold
und Edelsteinen verzierter Jakobus darauf, von hinten umarmt zu werden. Dieser
Brauch wurde seit Jahrhunderten von vielen Peregrinos zelebriert, als Zeichen
der Beendigung ihrer Pilgerreise.
Die Freundinnen setzten sich in eine der Bankreihen, um ihre
Gefühle zu sortieren und zur Ruhe zu kommen.
„Mir ist so, als wartete ich auf irgendetwas“, brummelte
Sabine leise, „aber ich weiß nicht, auf was.“
„Vielleicht sollten die Engel mit Pauken und Trompeten
blasen, weil wir hier angekommen sind?!“, fragte Andrea etwas spöttisch.
„Quatsch!“, entgegnete Sabine, „aber was hältst du davon,
wenn wir erst einmal die ganze Kirche besichtigen? Ich muss mich bewegen. Mit
meinen Gefühlen bin ich noch nicht hier.“
Sie schulterten ihre Rucksäcke und setzten die Besichtigung
fort. Unsicher und abwartend, den schweren Rucksack wieder auf dem Rücken, die
müden Beine langsam bewegend, machten sie zuerst Halt in der Anbetungs- und
dann in der Marienkapelle. Sie setzten sich in eine der Bankreihen und hingen
ihren Gedanken und Gefühlen nach. Sie hatten das Ziel ihrer langen Wanderung
erreicht; aber rein gefühlsmäßig waren sie noch unterwegs. Das Angekommensein
musste sich noch verinnerlichen.
Sabine beschloss, sich in die Pilgerkette einzufädeln, um den
goldenen Jakobus hinter dem Altar zu umarmen oder wenigstens zu berühren.
„Du bringst mich zum Staunen“, grinste Andrea sie an, „aber
ich komme mit. Diesen uralten Brauch zelebrieren wir gemeinsam.“
„Vielleicht hilft es ja beim Ankommen.“
Als sie die wenigen Stufen erklommen hatte und hinter der
goldenen Statue stand, berührte Sabine vorsichtig eine Schulter der
Heiligenfigur. Sie fühlte sich glatt und kalt an. Nein, umarmen konnte und
wollte sie diesen Goldklotz doch nicht. Plötzlich kam sie sich vor
Weitere Kostenlose Bücher