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Eine Spur von Verrat

Eine Spur von Verrat

Titel: Eine Spur von Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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hatte keine Ahnung, ob Rathbone selbst einen Sinn in seiner Vorgehensweise sah, weshalb er das alles anstandslos hinnahm. Hatte er vielleicht das Gefühl, daß er Robert Andrews gar nicht brauchte?
    Monk stand an seinem Fenster in der Grafton Street und starrte auf die Straße hinaus. Der Wind wirbelte ein einzelnes Zeitungsblatt über das Kopfsteinpflaster. An der Ecke bot ein Straßenhändler Schnürsenkel feil. Ein Paar überquerte Arm in Arm die Straße; er beugte sich ein wenig zu ihr vor, sie lachte. Die beiden schienen sich prächtig zu verstehen, und Monk wurde unversehens von einem derart heftigen Einsamkeitsgefühl überfallen, daß er selbst überrascht war. Er fühlte sich ausgeschlossen, als sähe er das, was im Leben wirklich zählt, den angenehmeren Teil, wie aus weiter Ferne und durch Glas.
    Auf seinem Schreibtisch lag die ungeöffnete Akte von Evans letztem Fall. Sie enthielt vielleicht den Schlüssel zu dem Geheimnis, das ihn umgab. Wer war diese Frau, die sich so hartnäckig in seinen Gedanken behauptete und immer wieder dermaßen aufwühlende Schuldgefühle, Verlustängste und vor allem Verwirrung auslöste? Er fürchtete sich vor der Antwort und fand es doch schlimmer, sie nicht zu erfahren. Ein Teil von ihm sträubte sich einfach deshalb dagegen, weil auch die letzte Hoffnung auf ein besseres, freundlicheres oder edleres Ich vertan war, sobald er das Rätsel gelöst hatte. Er wußte, es war dumm, sogar feige – und genau dieser Kritikpunkt gab letztlich den Ausschlag, daß er sich in Bewegung setzte. Er ging zum Schreibtisch und öffnete den Umschlag.
    Die erste Seite las er im Stehen. Der Fall war nicht besonders komplex. Hermione Ward war mit einem reichen, gleichgültigen, ein paar Jahre älteren Mann verheiratet gewesen. Sie war seine zweite Frau, und er hatte sie offenbar recht kühl behandelt, sie knapp bei Kasse gehalten, ihr nur wenig gesellschaftliche Aktivitäten geboten und verlangt, daß sie sich um sein Haus sowie die beiden Kinder aus erster Ehe kümmerte.
    Eines Nachts war in dieses Haus eingebrochen worden. Albert Ward hatte es anscheinend gehört und war nach unten gegangen, um den Dieb zu stellen. Es hatte einen Kampf gegeben, in dessen Verlauf er auf den Kopf geschlagen worden und an der Schädelverletzung gestorben war.
    Monk zog sich einen Stuhl heran und setzte sich hin.
    Die Ortspolizei von Guilford hatte den Fall untersucht und mehrere Verdachtsmomente entdeckt, die ihr Mißtrauen erregte. So lagen die Scherben der zerbrochenen Fensterscheibe zum Beispiel draußen, nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, im Innern des Hauses. Die Witwe konnte keine gestohlenen Gegenstände melden und dies auch im Verlauf der kommenden Woche, als sich der erste Schrecken gelegt haben mußte, nicht revidieren. Weder in den Leihhäusern noch bei den einschlägig bekannten Hehlern war Diebesgut zum Verkauf angeboten worden. Die im Haus wohnenden Dienstboten, insgesamt sechs an der Zahl, hatten nichts Auffälliges während der Nacht gesehen oder gehört. Es gab keinerlei Fußabdrücke oder andere Hinweise auf einen ungebetenen Eindringling.
    Die Polizei nahm Hermione Ward unter Mordverdacht fest. Scotland Yard wurde mit dem Fall betraut. Runcorn entsandte Monk nach Guilford. Der Rest der Akte war vermutlich dort zu finden.
    Es gab nur eine Möglichkeit, die Wahrheit zu entdecken – er mußte dort hinfahren. Guilford war nicht weit weg und mit dem Zug bequem zu erreichen. Doch heute war Samstag, als Termin für ein solches Unterfangen vielleicht schlecht gewählt. Der Officer, den er brauchte, hatte eventuell frei, und am Montag, wenn der Carlyonprozeß fortgesetzt wurde, mußte er zurück sein. Wieviel konnte er in zwei Tagen erreichen? Womöglich nicht genug.
    Er fand jede Menge Ausflüchte, weil er Angst vor der Wahrheit hatte.
    Er verabscheute Feigheit; sie war die Wurzel all der Charakterschwächen, die er am meisten haßte. Wut konnte er verstehen, Rücksichtslosigkeit, Ungeduld, Gier, auch wenn diese Dinge schon häßlich genug waren – aber wie konnte man ohne Mut seine Vorzüge, sein Ehrgefühl oder seine Integrität zum Wirken bringen und bewahren? Ohne den Mut, sich dafür einzusetzen, war nicht einmal auf die Liebe Verlaß.
    Er trat erneut ans Fenster und ließ seinen Blick über die im Sonnenschein schimmernden Dächer der gegenüberliegenden Gebäude schweifen. Es hatte keinen Sinn, der Wahrheit aus dem Weg zu gehen. Die Ungewißheit würde ihn so lange quälen, bis er endlich

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