Eine Spur von Verrat
gar nicht, daß es wieder einen Fall gibt, bei dem wir Ihre Hilfe brauchen. Muß wohl gerade erst passiert sein.« Der Mann war verwirrt. Konnte sich tatsächlich ein so kompliziertes Verbrechen ereignet haben, daß Scotland Yard hinzugezogen werden mußte, ohne daß es über seinen Schreibtisch gegangen war? Nur die brisantesten und heikelsten Fälle wurden als derart geheim eingestuft – wie zum Beispiel ein Attentat auf eine hochgestellte Regierungsperson oder ein Mord, in den der Adel verwickelt war.
»Ich bin nicht mehr bei der Polizei«, erklärte Monk. Er gewann nichts, konnte aber alles verlieren, wenn er log. »Ich arbeite privat.« Er sah den ungläubigen Blick seines Gegenübers und mußte schmunzeln. »Es gab Meinungsverschiedenheiten wegen eines bestimmten Mordfalls – eine meiner Ansicht nach unrechtmäßige Festnahme.«
Des Sergeants Miene hellte sich auf. »Ja, das muß der Fall Moidore gewesen sein«, sagte er triumphierend.
»Das stimmt!« Jetzt war Monk überrascht. »Woher wissen Sie das?«
»Hab davon gelesen, Sir. Wußte sofort, daß Sie recht hatten.« Er nickte zufrieden, auch wenn es ein wenig spät dafür war.
»Was können wir diesmal für Sie tun, Mr. Monk?«
Monk kam erneut zu dem Schluß, daß die Wahrheit vermutlich das Klügste war. Der Mann stand, aus welchen Gründen auch immer, offenbar auf seiner Seite, doch das konnte sich sehr leicht ändern, wenn er bei einer Lüge ertappt wurde.
»Ich habe ein paar Einzelheiten des Mordfalls vergessen, den ich damals hier untersucht habe, und würde mein Gedächtnis gern auffrischen. Ich dachte, es wäre eventuell möglich, mit jemandem darüber zu sprechen. Mir ist natürlich klar, daß wir Samstag haben und die zuständigen Sachbearbeiter vielleicht nicht im Dienst sind, aber heute ist der einzige Tag, den ich mir freinehmen kann. Ich arbeite an einer großen Sache.«
»Kein Problem, Sir. Mr. Markham ist hinten in seinem Büro und hilft Ihnen bestimmt gern weiter. Das war damals sein größter Fall. Er ist immer noch ganz aus dem Häuschen, wenn er mal drüber reden kann.« Er wies mit dem Kopf auf eine Tür, die nach rechts abging. »Wenn Sie da durchgehen, Sir, finden Sie ihn ganz hinten, wie immer. Sagen Sie ihm, ich hätte Sie geschickt.«
»Vielen Dank, Sergeant.« Ehe offensichtlich werden konnte, daß er sich nicht an den Namen des Mannes erinnerte, verschwand Monk durch die Tür in den dahinterliegenden Flur. Zum Glück lag die Richtung, die er einschlagen mußte, auf der Hand, denn auch sie gehörte zu den Dingen, die ihm entfallen waren.
Sergeant Markham stand mit dem Rücken zur Tür. Sobald Monk ihn erblickte, rief etwas am Schwung seiner Schultern, an der Form seines Hinterkopfs und an der Art, wie er die Arme hängen ließ, eine lebhafte Erinnerung in ihm wach, und er fühlte sich plötzlich in die Zeit zurückversetzt, als er sich voll Sorge und nagender Furcht in den Fall hineingekniet hatte.
Dann drehte Markham sich um, und der Spuk war vorbei. Er befand sich wieder im Hier und Jetzt, sah sich in einem fremden Raum in einer ihm unbekannten Polizeidienststelle einem Mann gegenüber, der ihn zwar kannte, von dem er selbst indes nicht das geringste wußte, außer daß sie einmal zusammengearbeitet hatten. Seine Züge waren ihm nur ganz vage vertraut; er hatte blaue Augen, eine helle, zu dieser Jahreszeit noch recht blasse Haut und volles Haar, das von der Sonne vorn etwas ausgebleicht war.
»Ja, Sir?« erkundigte er sich nüchtern, wobei sein Augenmerk zunächst auf Monks Zivilkleidung fiel. Dann widmete er sich eingehender dem Gesicht und erkannte ihn augenblicklich wieder. »Na, Sie sind’s, Mr. Monk!« Sein Enthusiasmus hielt sich in Grenzen. Der Blick der blauen Augen verriet eindeutig Bewunderung, aber auch Vorsicht. »Wie geht’s denn so, Sir? Gibt’s ’nen neuen Fall?«
»Nein, immer noch den alten.« Monk fragte sich, ob er lächeln sollte, oder ob das so untypisch für ihn war, daß es grotesk wirken mußte. Die Entscheidung fiel ihm nicht schwer: es wäre ohnehin nur gekünstelt und würde ihm auf den Lippen gefrieren. »Mir sind ein paar wichtige Fakten entfallen, die ich mir aus Gründen, die ich Ihnen nicht nennen kann, wieder in Erinnerung rufen möchte. Genauer gesagt hätte ich gern, daß Sie sie mir erzählen. Sie haben die Akte doch noch?«
»Sicher, Sir.« Obwohl Markham sichtlich erstaunt war, drückten sowohl seine Miene als auch sein Verhalten völlige Hinnahme aus. Er war es gewöhnt,
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