Eine Spur von Verrat
wußte, wer sie war, woher diese leidenschaftlichen Gefühle für sie kamen, weshalb er sie dennoch aufgegeben und verlassen hatte. Warum besaß er keinerlei Andenken an sie – keine Bilder, keine Briefe, rein gar nichts? Vermutlich war der Gedanke an ihr idealisiertes Ich so schmerzhaft, daß er ihn völlig aus seinem Leben verbannt hatte. Aber die Realität sah anders aus. Es würde nicht einfach aufhören, weh zu tun. Er würde weiterhin nachts aus dem Schlaf schrecken, von vernichtender Ernüchterung und bohrender Einsamkeit geplagt. Zur Abwechslung hatte er einmal keine, wirklich gar keine Probleme, Leute zu verstehen, die einfach davonrannten.
Aber er konnte seine Empfindungen nicht einfach begraben, sie waren zu wichtig; sein Verstand ließ es nicht zu. Immer wieder stürmten Erinnerungsfetzen auf ihn ein, ein flüchtiger Eindruck von ihren Zügen, eine bestimmte Geste, die Farbe eines Kleidungsstücks, ihr Gang, die weiche Fülle ihres Haars, ihr Parfüm, das Rascheln von Seide. Warum, um Gottes willen, nicht auch ihr Name? Wieso nicht ihr Gesicht?
In London war übers Wochenende nichts für ihn zu tun. Das Gericht hatte sich vertagt, der dritte Mann war entlarvt. Nun lag alles bei Rathbone.
Monk wandte sich vom Fenster ab, marschierte entschlossen zum Kleiderständer, riß Hut und Mantel vom Haken und verließ den Raum. Er konnte sich gerade noch daran hindern, die Tür lautstark hinter sich zuzuknallen.
»Ich fahre nach Guilford«, teilte er seiner Wirtin Mrs. Worley mit. »Vor übermorgen bin ich nicht zurück.«
»Aber dann sind Se wieder da, oder?« fragte sie in forschem Ton, während sie sich die Hände an ihrer Schürze abwischte. Sie war eine stattliche Frau, nett und geschäftstüchtig. »Sie wolln wieder zu diesem Prozeß, stimmt’s?«
Monk war erstaunt. Er hätte nicht gedacht, daß sie davon wußte.
»Stimmt. Das will ich.«
Mrs. Worley schüttelte den Kopf. »Ich möcht’ wirklich mal wissen, wieso Se sich immer mit solchen Fällen rumschlagen müssen. Sie sind ganz schön tief gesunken, seit Se nich mehr bei der Polizei sind, Mr. Monk. Damals ham Se noch Verbrecher gejagt, statt ihnen zu helfen.«
»Sie hätten ihn auch umgebracht, Mrs. Worley, wenn Sie an ihrer Stelle gewesen wären und den Mut dazu gehabt hätten«, gab Monk schneidend zurück. »So wie jede Frau, die noch einen Funken Gefühl im Leib hat.«
»Hätte ich nich«, protestierte sie grimmig. »Keine Liebe zu ’nem Mann kann so groß sein, daß ich deshalb zur Mörderin werd!«
»Sie haben ja keine Ahnung, worum es eigentlich geht. Es geschah nicht aus Liebe zu einem Mann.«
»Hüten Se mal bloß Ihre Zunge, Mr. Monk«, versetzte sie energisch. »Ich weiß, was in den Zeitungen steht, die immer ums Gemüse rumgewickelt sind, und das is unmißverständlich genug!«
»Die Zeitungen haben genausowenig Ahnung. Aber sieh mal einer an, Mrs. Worley – Sie lesen also Zeitung! Was Mr. Worley wohl dazu sagen würde? Und dann auch noch die Klatschspalten.« Er grinste ihr frech ins Gesicht, wobei all seine Zähne sichtbar wurden.
Sie strich mit einer ruppigen Bewegung ihre Röcke glatt und funkelte ihn wütend an.
»Das braucht Sie nich zu kümmern, Mr. Monk. Was ich lese, geht nur Mr. Worley und mich was an.«
»Sie und Ihr Gewissen geht es etwas an, Mrs. Morley, sonst niemanden. Aber die Zeitungen wissen wirklich noch nichts. Warten Sie, bis der Prozeß vorbei ist, und sagen Sie mir dann, was Sie denken.«
»Pah!« schnaubte sie verächtlich, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Küche.
Monk nahm den nächsten Zug und traf am späteren Vormittag in Guilford ein. Nach einer weiteren Viertelstunde setzte ihn ein Hansom vor der hiesigen Polizeistation ab. Er ging die Treppe hinauf zu dem diensthabenden Sergeant am Empfangsschalter.
»Ja, Sir?« Seine Miene verriet die ersten Anzeichen von langsam aufkeimendem Wiedererkennen. »Mr. Monk? Na, so was, wie geht’s Ihnen?« Er klang respektvoll, fast ein wenig ehrfürchtig, aber nicht im mindesten verängstigt. Monk flehte zu Gott, daß er wenigstens hier keinen schlechten Eindruck hinterlassen hatte.
»Es geht mir gut, Sergeant, danke«, entgegnete er höflich.
»Und Ihnen?«
Sein Gegenüber war es nicht gewohnt, daß man sich nach seinem Befinden erkundigte, und schaute etwas überrascht. Die Antwort hörte sich jedoch vollkommen gelassen an.
»Mir auch, danke Ihnen, Sir. Was kann ich für Sie tun? Mr. Markham ist da, falls Sie zu ihm wollen. Ich wußte
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