Eine Spur von Verrat
was?« warf Edith hastig ein. »Wovon soll er sie denn überzeugen? Sie hat es getan, das hat er selbst überaus anschaulich bewiesen! Was gibt es dazu noch zu sagen?«
Hester zögerte. Sie war heilfroh über Major Tipladys Anwesenheit, auch wenn er nicht das geringste tun konnte. Seine bloße Gegenwart war schon ein gewisser Trost.
Edith fuhr mit einem schwachen, bitteren Lächeln fort: »Er kann ihnen kaum einreden, sie hätte zu Recht so gehandelt. Thaddeus war geradezu tödlich tugendhaft – er verfügte über sämtliche positiven Eigenschaften, die für andere Leute zählen.« Sie runzelte unvermittelt die Stirn. »Und somit bleibt für uns nach wie vor ein Rätsel, warum sie ihn umgebracht hat. Wird Rathbone behaupten, sie sei verrückt? Will er darauf hinaus? Ich glaube nicht, daß sie es ist.« Ihr Blick flog zum Major. »Ich habe eine Vorladung bekommen; man braucht mich als Zeugin. Was soll ich nur tun?«
»Aussagen«, schlug Hester vor. »Dir bleibt nichts anderes übrig. Beantworte einfach ihre Fragen, sonst nichts. Aber sei ehrlich, versuche nicht zu erraten, was sie hören wollen. Es ist Rathbones Aufgabe, etwas aus dir herauszubekommen. Wenn es so wirkt, als ob du ihm helfen willst, werden die Geschworenen es merken und dir nicht mehr glauben. Sag einfach die Wahrheit, egal was er dich fragt.«
»Aber was könnte er mich denn fragen? Ich weiß doch gar nichts.«
»Ich habe keine Ahnung, was er dich fragen wird«, gab Hester aufgebracht zurück; sie verlor allmählich die Geduld. »Er würde es mir bestimmt nicht verraten. Ich darf es nicht wissen und will es auch gar nicht! Aber ich weiß, daß er sich eine Strategie ausgedacht hat, durch die er den Prozeß vielleicht gewinnt. Bitte, glaub mir und verlange mir nicht länger Antworten ab, die ich dir nicht geben kann.«
»Entschuldige, es tut mir leid.« Edith war auf einmal völlig zerknirscht. Sie stand hastig auf und trat ans Fenster; ihre Bewegungen wirkten weit weniger anmutig als gewohnt, weil sie unsicher war. »Ich habe immer noch die Absicht, mich nach irgendeiner Stellung umzusehen, wenn dieser Prozeß endlich vorbei ist. Mama wird zwar außer sich sein, aber ich bekomme zu Hause einfach keine Luft mehr. Ich habe mein Leben lang nur sinnlose Dinge getan. Ich mache Stickarbeiten, die niemand braucht, und male Bilder, die nicht mal mir besonders gefallen. Ich spiele Klavier, obwohl ich’s nicht kann, und wenn mir überhaupt jemand zuhört, dann nur aus reiner Höflichkeit. Ich mache Pflichtbesuche, zu denen ich den Leuten eimerweise eingemachtes Obst mitbringe, verteile Suppe an die verdienten Armen und komme mir dabei vor wie die allergrößte Heuchlerin, weil es ihnen kaum helfen kann. Wenn wir zu ihnen kommen, platzen wir fast vor Rechtschaffenheit, wenn wir wieder gehen, haben wir das Gefühl, all ihre Probleme gelöst zu haben, dabei haben wir sie nicht einmal gestreift.« Ihre Stimme setzte kurz aus. »Ich bin jetzt dreiunddreißig und führe das Leben einer alten Frau. Hester – ich habe grauenhafte Angst davor, daß ich eines Tages wach werde und wirklich alt bin, daß ich auch nicht auf das geringste zurückblicken kann, das irgendeinen Wert hat. Ich habe niemals etwas zustande gebracht, mich für keine bestimmte Sache eingesetzt, niemandem mehr geholfen, als mir gerade gelegen kam, seit Oswalds Tod nie wieder wirklich tiefempfunden. Ich war noch nie zu irgend etwas nutze.« Kerzengerade und völlig reglos stand sie da, ohne sich zu ihnen umzudrehen.
»Dann mußt du wirklich eine Arbeit finden«, sagte Hester bestimmt. »Egal ob hart oder schmutzig, bezahlt oder unbezahlt, ja sogar ungedankt – das ist immer noch besser, als jeden Morgen für einen weiteren verschwendeten Tag aufzustehen und abends beim Schlafengehen genau zu wissen, daß er verschwendet war. Irgend jemand hat einmal geagt, das meiste von dem, was wir bedauern, ist nicht, was wir getan, sondern was wir nicht getan haben. Ich denke, derjenige hatte im großen und ganzen recht. Du hast deine Gesundheit. Es wäre garantiert besser, anderen zu dienen als überhaupt nichts zu tun.«
»Du meinst, ich soll in ein Bedienstetenverhältnis eintreten?« fragte Edith ungläubig; ihr Ton enthielt sogar den Anflug eines unterdrückten, leicht hysterischen Kicherns.
»Nein, es muß ja nicht gleich etwas derart Anspruchsvolles sein – das wäre wirklich mehr, als deine Mutter verdient. Ich dachte eher, du könntest irgendeinem armen Geschöpf helfen, das zu krank oder zu
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