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Eine Spur von Verrat

Eine Spur von Verrat

Titel: Eine Spur von Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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magerer Straßensänger mit wehenden blonden Stirnfransen kam ihm im Laufschritt auf dem Gehweg entgegen, sein trällernder Singsang erzählte in simplen Reimen von einer Familientragödie, die in Treuebruch und Mord ausgeufert war. Wenige Meter vor Rathbone blieb er stehen, woraufhin sich sogleich ein paar müßige Passanten um ihn scharten, um den Rest der Geschichte zu erfahren. Jemand warf ihm ein paar Pennies zu.
    Ein Gemüsehändler, der seinen Karren mitten auf der Straße schob, pries brüllend seine Waren an, von der Whitfield Street humpelte ein Krüppel mit einem Korb voller Streichholzschachteln herbei.
    Es hatte wenig Sinn, die Pflastersteine plattzustehen. Rathbone stieg kurzentschlossen die Stufen hinauf und klopfte an die Tür. Sie gehörte zu einer seriösen, geräumigen Pension, wie sie für einen alleinstehenden Geschäftsmann oder auch weniger hochrangig tätigen Menschen bestens geeignet war. Monk hätte gar keine Verwendung für ein eigenes Haus. Wenn ihn seine Erinnerung nicht trog und er erinnerte sich in der Tat überaus lebhaft an ihn –, gab Monk sein Geld lieber für teure und extrem gut geschnittene Kleidung aus. Er mußte sowohl beruflich als auch gesellschaftlich stolze und ehrgeizige Ziele gehabt haben – vor seinem Unfall zumindest. Dieser hatte ihn so nachhaltig das Gedächtnis gekostet, daß ihm zu Anfang sogar sein Name und sein Gesicht fremd gewesen waren. Er hatte sein ganzes Leben Stück für Stück rekonstruieren, aus bruchstückhaften Beweisstücken zusammensetzen müssen: Briefe; alte Polizeiakten der von ihm bearbeiteten Fälle, als er noch einer der besten Detectives ganz Londons gewesen war; die Art, wie andere auf ihn reagierten; die Gefühle, die sie ihm entgegenbrachten.
    Dann hatte er über dem Fall Moidore das Handtuch geworfen und den Dienst quittiert, denn gegen seine Überzeugung konnte und wollte er keine Befehle ausführen. Jetzt hielt er sich, so gut es ging, mit privaten Nachforschungen für solche Leute über Wasser, die die Hilfe der Polizei aus dem einen oder anderen Grund nicht in Anspruch nehmen wollten.
    Seine dralle Wirtin öffnete Rathbone die Tür und machte angesichts seiner tadellosen Erscheinung riesengroße Augen. Dank eines tieferen Instinkts konnte sie den feinen Unterschied in der Ausstrahlung eines einflußreichen Geschäftsmanns, eines schlichteren Handlungsreisenden und diesem vornehmen Anwalt mit diskret grauem Mantel und silbernem Gehstockknauf durchaus erkennen. »Ja, Sir?« fragte sie neugierig. »Ist Mr. Monk zu Hause?«
    »Ja, Sir. Was darf ich ihm sagen, wer’s is?«
    »Oliver Rathbone.«
    »Ja, Sir. Mr. Rathbone. Wenn Sie bitte reinkommen woll’n? Ich hol’ ihn sofort runter.«
    »Vielen Dank.« Gehorsam folgte er ihr in das frostige, in düsteren Farben gehaltene Empfangszimmer mit seinen sauberen Schonbezügen und sorgfältig arrangierten Strohblumensträußen, die vermutlich speziell für derlei Anlässe bereitgehalten wurden.
    Sie ließ ihn allein. Wenige Minuten später tat sich die Tür auf, und Monk kam herein. Kaum hatte er den Raum betreten, kehrten Rathbones frühere Empfindungen zurück: die spontane Mischung aus Zuneigung und Abneigung; die Überzeugung, daß ein Mann mit einem solchen Gesicht skrupellos, gerissen, unberechenbar, zynisch und spitzzüngig sein mußte; gleichzeitig aber auch das Gefühl, daß er rachsüchtig, leicht erregbar, sich und anderen gegenüber rücksichtslos ehrlich war und von einer recht verschrobenen Art Mitgefühl getrieben wurde. Schön war dieses Gesicht nicht; der Knochenbau war kräftig und regelmäßig, die Nase gebogen und doch breit, die Augen erschreckend durchdringend, der übergroße Mund zu schmal und auf der Unterlippe von einer Narbe gezeichnet.
    »Morgen, Monk«, sagte Rathbone in sachlichem Ton. »Ich hätte da einen undankbaren Fall, der einige Ermittlungen erfordert.«
    Monk riß vielsagend die Brauen hoch. »Also kommen Sie schnurstracks zu mir? Soll ich mich jetzt geehrt fühlen?« Ein Anflug von Belustigung streifte seine Züge und machte sich gleich wieder davon. »Unbezahlt ist er wohl nicht, nehme ich an? Sie haben ihn doch sicher nicht aus reiner Gefälligkeit übernommen.« Seine Aussprache war einwandfrei. Der ursprüngliche, melodiöse Northumberlandakzent war einem perfekt modulierten Oxfordenglisch gewichen, das er sich durch hartes Training angeeignet hatte.
    »Nein.« Rathbone blieb ohne große Probleme gelassen. Mochte Monk ihn noch so sehr ärgern,

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