Eine Spur von Verrat
lassen.
Sie zuckte kaum merklich die Achseln, und ihm fiel erneut auf, wie dünn sie war. In der weißen Bluse und dem grauen, reifenlosen Rock wirkte sie fast wie ein hilfloses Kind, hätte ihr Gesicht nicht soviel Stärke ausgestrahlt. Dabei war sie ganz und gar nicht der Typ einer Kindfrau. Die breite Stirn und das kurze, runde Kinn verrieten eine für Unterwürfigkeit bei weitem zu entschlossene Person es sei denn, sie wollte diesen Eindruck unbedingt erwecken, und selbst dann konnte er nicht von langer Dauer sein.
»Erzählen Sie mir genau, wie es passiert ist, Mrs. Carlyon«, startete er einen zweiten Versuch. »Beginnen Sie an jenem Abend, als das Verhältnis zweifellos schon eine Weile im Gang war. Wann wurde Ihnen überhaupt zum erstenmal klar, daß die beiden füreinander entflammt waren?«
»Ich weiß es nicht mehr.« Sie schaute ihn immer noch nicht an; unter Druck schien sie jedenfalls nicht zu stehen. Es war ziemlich offensichtlich, daß ihr egal war, ob er ihr glaubte oder nicht. Sie war wieder ganz gefaßt und hob gleichgültig die Schultern. »Vor einigen Wochen ungefähr. Man sieht nur das, was man sehen will.« Dann schien sie sich plötzlich unter inneren Qualen zu winden. Irgend etwas verursachte ihr solchen Schmerz, daß er fast greifbar wurde.
Rathbone war verwirrt. Im einen Moment waren ihre Gefühle derart intensiv, daß er den Widerhall beinah im eigenen Körper zu spüren glaubte. Im nächsten wurde sie völlig teilnahmslos, als sprächen sie über Dinge, die absolut niemanden interessieren.
»Und an diesem Abend kam es zur Eskalation?« fragte er sanft.
»Ja…« Ihre von Natur aus rauhe, für eine Frau ungewöhnlich tiefe, angenehme Stimme degradierte zu einem schwachen Flüstern.
»Sie müssen mir erzählen, was geschehen ist, eins nach dem anderen, Mrs. Carlyon, wenn ich… Sie verstehen soll.« Fast hätte er gesagt Ihnen helfen, doch dann war ihm die Hoffnungslosigkeit in ihrem Gesicht, ihre ganze resignierte Haltung wieder eingefallen. Nein, sie glaubte nicht an Hilfe. Ein solches Versprechen bedeutete ihr nichts und würde ihm lediglich eine zweite Abfuhr eintragen.
Das Gesicht nach wie vor abgewandt, meinte sie gepreßt:
»Verständnis bringt uns nicht weiter, Mr. Rathbone. Ich habe ihn ermordet. Mehr verlangt das Gesetz nicht zu wissen; es ist das einzige, was zählt, und darüber hinaus unbestreitbar wahr.«
Rathbone lächelte trocken. »In der Rechtsprechung ist nichts unbestreitbar, Mrs. Carlyon. Auf diese Weise verdiene ich meinen Lebensunterhalt, und ich bin gut, glauben Sie mir. Ich gewinne zwar nicht immer, aber doch wesentlich öfter, als ich verliere.«
Sie drehte sich schwungvoll um und blickte ihn amüsiert an. Das plötzliche Leuchten in ihrem Gesicht vermittelte ihm einen flüchtigen Eindruck von der wunderbaren Frau, die sie unter anderen Umständen sein mußte.
»Die typische Antwort eines Rechtsverdrehers«, sagte sie leise. »Ich fürchte jedoch, einer dieser eher seltenen Fälle zu sein.«
»Ich bitte Sie. Zwingen Sie mich nicht, die Waffen zu strecken, ehe ich überhaupt angefangen habe!« Auch er ließ einen Hauch Unbekümmertheit in seinen Ton einfließen. »Ich werde lieber geschlagen, als daß ich aufgebe.«
»Es ist nicht ihre Schlacht, Mr. Rathbone. Es ist meine.«
»Ich würde sie liebend gern zu der meinen machen. Und Sie werden einen Strafverteidiger brauchen. Sie können nicht für sich selbst sprechen.«
»Sie können auch nur mein Geständnis wiederholen«, entgegnete sie störrisch.
»Mrs. Carlyon, ich verabscheue jede Form von Grausamkeit, besonders wenn sie unnötig ist. Aber ich muß Ihnen die Wahrheit sagen. Wenn man Sie schuldig spricht und keine mildernden Umstände walten läßt, kommen Sie an den Galgen.«
Sie schloß ganz langsam die Augen und atmete tief ein; ihre Haut war aschfahl. Ja, er hatte sich nicht getäuscht. Der Gedanke war ihr bereits kurz gekommen, doch ein innerer Abwehrmechanismus und eine vage Hoffnung hatten sie vor dem Begreifen bewahrt. Nun, da es ausgesprochen war, konnte sie sich nichts mehr vormachen. Rathbone beobachtete sie und kam sich widerwärtig gefühllos vor. Aber sie einer Illusion aufsitzen zu lassen wäre wesentlich schlimmer, sogar hochgradig gefährlich gewesen.
Er mußte alle nicht greifbaren Größen, die ihr inneres Gleichgewicht bestimmten – Furcht und Stärke, Ehrlichkeit, Liebe oder Haß – messerscharf beurteilen. Sonst würde er sie nie aus diesem Morast ziehen können, den er
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