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Eine Stadt names Cinnabar

Eine Stadt names Cinnabar

Titel: Eine Stadt names Cinnabar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Bryant
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automatisch und unbestimmt entschuldigend an, obgleich sie durchaus keine Entschuldigung verlangt hatte.
    Die Frau, deren Haar heute nacht zu einem Gebilde wie aus violettem Kristall frisiert war, sah von ihrem Sandbild auf, das den Boden des geräumigen Schlafzimmers schmückte. „Ich kann mich nicht erinnern, dieses Lied jemals von dir gehört zu haben“, sagte sie.
    „Wieder ein Stück aus dem kulturellen Abfallhaufen in Terminex’ Gedächtnishöhlen, das ich dort aufgestöbert habe“, erläuterte er. „Offenbar ein altertümliches Volkslied.“
    „Wer ist dieser Zauberer?“
    „Weiß ich nicht.“
    „Wo Hegt Oz?“
    „Keine Ahnung.“
    „Dein greuliches Singen hat mich ja nie besonders gestört“, meinte Tourmaline, „aber ich hoffe und bete, daß die morgige Expedition etwas harmonischer enden wird als dieses Lied.“
    „Sie muß“, erwiderte Obregon, „andernfalls wird in Cinnabar niemand mehr übrig sein, der sich überhaupt noch irgendwelche Musik anhören kann.“
    „Sagt Torre?“ fragte Tourmaline skeptisch.
    „Sagt Torre.“
    „Woher weißt du, daß ausgerechnet sie das weiß?“
    „Bis zu einem gewissen Grade“, räumte Obregon ein, „ist es ein Akt des Glaubens.“
    „Timnath, ich bin überrascht, das von dir zu hören.“
    „Um die Wahrheit zu sagen – mich überrascht es ebenfalls. Aber mit Jack Burtons Tod hat sie recht gehabt – weißt du noch?“
    „Zinnoberrot – nie ist Zinnoberrot da, wenn ich welches brauche.“ Vergeblich sah sie in die durchsichtigen Behälter und dann zu ihm auf. „Diese Horrorgeschichte hätte jeder voraussagen können.“
    Eigensinnig schüttelte Obregon den Kopf und starrte durch die transparente Wand in den üppigen Garten. „Torre weiß mehr, als wir anderen wissen können. Ich habe so ein Gefühl …“
    „Ich auch. Ich glaube, du kommst in deine mystische Phase – als Gegenreaktion auf deine lange Zugehörigkeit zum Institut.“ Tourmaline trat von ihrem Malrahmen zurück und stäubte mit abschließender Geste ihre Oberschenkel ab. „Das muß warten, bis ich Zinnober finde.“
    „Laß es nicht zu lange warten“, sagte Obregon leise.
    „Nein.“ Lange und eindringlich blickte sie ihn an, doch er sagte nichts und machte auch keine Bewegung. Er beobachtete die reglosen Bäume in dem angrenzenden botanischen Garten. Die Nacht brach an, die sich überschneidenden Triangel des Laubdaches wurden automatisch transparenter, um das schwingende Licht besser durchzulassen. Langsam verblaßten die schimmernden Laubfarben. „Wie wunderhübsch“, sagte Tourmaline, „nicht wahr, Timnath?“
    „Ja, sehr hübsch“, antwortete er mechanisch.
    „Dieser Zauberwald. Eines Tages wird er mir besser gefallen als mein Baumhaus.“
    „Möglich.“
    Tourmaline kam quer durch den Raum zu ihm. „Stört es dich, daß ich diese Sache anscheinend nicht ernst genug nehme?“
    Er legte ihr seinen eckigen Arm um die Schultern. „Du wirst es nüchterner sehen, wenn es soweit ist. Ich mache mir am meisten Sorgen um die Menschen hier in Cinnabar. Diese verdammte Stadt ist überhaupt nur noch aus purer Trägheit am Leben.“
    „Ist dir mein Gemälde aufgefallen, als du hereinkamst?“
    Verdutzt schüttelte Obregon den Kopf. Tourmaline führte ihn quer durch den Schlafraum zum Sandkasten. Sie betrachteten das Bild in der niedrigen Umrahmung.
    „Eine brennende Stadt.“
    „Sie wird brennen“, sagte Tourmaline, „auch ich habe in letzter Zeit meine Träume gehabt.“
    „Dann weißt du also …“
    „Ich habe eine Vorahnung.“ Sie zuckte die Achseln. „Vielleicht sind es auch nur Träume und weiter nichts. Rücksichtslos gesprochen – wäre es nicht ganz gesund für Cinnabar, wenn es unterginge?“
    „Das ist ein Standpunkt, den sich wenige Cinnabaraner auch nur anhören würden.“
    „Du hast es immerhin in Erwägung gezogen. Daher die heutige Expedition.“
    „Und du?“
    „Ich gehe mit.“ Sie nickte energisch. „Was auch immer dabei herauskommt – ich werde jedenfalls einen neuen Stadtteil kennengelernt haben.“
    „Bis zum Morgen kannst du es dir ja immer noch anders überlegen.“
    „Bis zum Morgen“, ahmte sie ihn spottend nach. „O ja. Ich werde darüber nachdenken. Ist ja soviel Zeit zum Nachdenken.“ Unter Obregons Berührung behielt ihr Haar wohl seine tief dunkle Turmalinfarbe, doch es wandelte seine Struktur von Kristall zu feiner Seide.
    Am Morgen war es Obregons eigene innere Uhr, die ihn munter machte und ihn wie von einer Feder

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