Eine Stadt names Cinnabar
geschnellt aus tiefem traumlosem Schlaf erwachen ließ. Die vormorgendliche Dunkelheit verschattete die umschließenden Wände des Schlafraumes, so daß es war, als schwebten die Bewohner über dem angrenzenden Wald. Obregon lag ganz still und spürte genießerisch Tourmalines animalische Wärme an allen den Stellen seines Körpers, wo ihre verschlungenen Gliedmaßen sich berührten. Sie atmete leicht und regelmäßig: das allein, überlegte Obregon, war Grund genug, Cinnabar zu retten. Der Gedanke, das Feld der Viertelgravitation zu verlassen und Frühstück zu machen, ging ihm vage durch den Kopf, doch er schlummerte wieder ein.
Tourmalines Wecker riß sie eine Stunde später aus dem Schlaf. Das begrenzte Feld schaltete sich ab, und sie sanken mit ihrem normalen Gewicht in die breite Fläche des Bettes ein. Musik unbekannter Herkunft ertönte – eine dissonante Blechbläsersymphonie – und schwoll zum Crescendo, während Tourmaline schlaftrunken das Gesicht in den Armen barg.
„Guten Morgen“, sagte Obregon, streichelte ihre nackten Schultern und küßte sie in den Nacken. Noch nicht ganz wach setzte sie sich auf, klatschte in die Hände, und die Musik verstummte. „Was für ein greulicher Morgen!“
„Ein Sommermorgen“, erwiderte Obregon, „hell und warm.“
„Jeder Morgen ist greulich.“ Gähnend rieb sie sich die Augen. „Ich möchte heißen Tee.“
„Wir brühen eine große Kanne auf. Unsere Freunde da unten sehen aus, als ob sie auch eine Weckhilfe nötig hätten.“
Tourmaline krabbelte an die Bettkante und spähte hinüber. Durch den nunmehr transparenten Fußboden sah sie einige Leute unten warten. Tourmaline winkte, und sie winkten zurück.
„Na also – die Expedition ist komplett“, sagte Obregon.
Die Teilnehmerliste der Expedition war nur kurz. Außer Obregon und Tourmaline waren es drei:
Erstens Torre. Sie war zierlich, fast zerbrechlich, täuschend kindhaft in ihrer Erscheinung. Strubbeliges, gelocktes rotes Haar umbuschte unordentlich ihr Haupt. Für eine geborene Cinnabaranerin war ihre Haut uncharakteristisch bleich; sie neigte zu Sommersprossen, sobald sie sich in die Sonne traute. Ihr Gesicht war platt und faltenlos, abgesehen von den netzartigen feinen Linien an den Augenwinkeln.
Die Augen waren das erste, was an ihr auffiel. Vom fast Transparenten bis ins beinahe Schwarze spielten sie in allen Schattierungen blanken Eises. Nicht nur die Farbe spielte dabei mit, sondern auch die seelische Struktur, denn selbst bei ihren engsten Kontakten mit einem anderen Wesen sah Torre immer woanders hin. Es war, als sei ihr Gesichtsfeld irgendwie weiter als das anderer Menschen – selbst Obregons. Doch sie sprach selten über das, was nur ihr allein sichtbar war. Früher war Torre weniger zurückhaltend gewesen, aber sie hätte bemerkt, daß ihre Reden bei denen, die sie hörten, Furcht erregten.
Sie hatte dicht am sozialen Ostrazimus gestanden und herausgefunden, daß ihr das Ausgestoßensein keinen Spaß machte, und so hatte sie gelernt, mit der Weitergabe ihrer Erkenntnisse vorsichtig zu sein.
Vor langer Zeit hatte sie tatsächlich die Absicht gehabt, Cinnabar zu verlassen und sich anderswohin zu begeben – nur gab es kein Anderswo. Oft hatte sie geträumt, sie stünde als eine der Ersten in einer langen Schlange vor einer geschlossenen und verriegelten Tür mit der Aufschrift FLUCHT. Niemals öffnete sich die Tür, niemals bewegte sich die Schlange. Die Menschen warteten, Torre unter den Ersten.
Die zweite Teilnehmerin der Expedition: Blau-Jade, die Katzenmutter, die fast vollkommene Kinderfrau, eine Kreuzung aus Primaten und Feliden. Sie war ebenso massiv, ebenso artikuliert wie irgendein normaler Mensch, und vielleicht noch intelligenter. Vielgelenkig, so daß sie imstande war, aufrecht zu gehen, bevorzugte sie jedoch den Vierpfotenschleichtritt der Katzen. Ihre Haltung erinnerte eher an den Panther als an die Hauskatze. Ihr Leib war ein schmiegsames System langer Muskeln, verhüllt und bedeckt von ihrem weichen, buschigen sanft pastellblau schimmernden Fell.
Sie war nicht so sehr das Glied einer unterdrückten Minderheit als, praktisch ausgedrückt, ein erpreßtes Individuum. In den letzten Jahren neigte Obregon mehr und mehr dazu, sie als ein Politikum zu betrachten: Blau-Jade, eine von den ewigen Zweiten in Cinnabar.
Und schließlich: der Fremde. Er war groß und schlank, größer sogar als Obregon, und viel hagerer; es sah aus, als hätte er zuwenig Haut für seinen
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