Eine Stadt wie Alice
Frau und ich
jedes Frühjahr zwei Wochen in Schottland verbracht und meist bei Loch Shiel
Fische gefangen. Ich hatte mir vorgestellt, dies werde immer so weitergehen und
ich könnte auch 1936 auf dem Heimweg bei meinem Klienten vorsprechen.
Aber im Winter 1935 ist Lucie
gestorben.
Nichts mehr davon! Wir waren
siebenundzwanzig Jahre verheiratet und — also, es war eine schlimme Zeit für
mich. Unsere beiden Söhne waren im Ausland, Harry bei der Marine und Martin bei
einer Petroleumgesellschaft in Basra. Ich brachte es nicht mehr über das Herz,
nach Loch Shiel zu reisen. Ich habe Schottland seit Lucies Tod nie
wiedergesehen. Ich verkaufte den Großteil der Möbel und unser Haus in
Wimbledon. In einer solchen Lage muß der Mensch sich zusammenreißen und einen
Strich unter die Vergangenheit ziehen. Inder Asche eines erloschenen Glücks
kann man nicht leben; es tut nicht gut.
Ich mietete eine Wohnung am Buckingham
Gate, gegenüber den Schloß-Stallungen. Zu meinem Klub am Pall Mall brauchte ich
nur quer durch den Park zu gehen. Ich möblierte die Zimmer mit ein paar Stücken
aus unserem Wimbledoner Haus, stellte eine Haushälterin ein, die mir morgens
das Frühstück bereitete und Ordnung hielt. Das Muster für meine neue
Lebensweise war mir von so manchem alten Klubfreund her wohlbekannt. Frühstück
daheim. Zu Fuß durch den Park und den Strand hinauf zum Chancery Lane in meine
Kanzlei. Tagsüber Arbeit. Ein Imbiß am Schreibtisch. Abends um sechs in den
Klub, Zeitungen lesen, irgendein Gespräch, Nachtmahl und danach eine Partie
Bridge. So etwa verlief mein Leben seit Anfang des Jahres 1936, und es hat sich
bis heute nicht geändert.
Und deshalb, wie gesagt, dachte ich nicht
mehr an Douglas Macfadden. Mein Denken war mehr als zur Hälfte von eigenem Leid
in Anspruch genommen; es fiel mir schon schwer, jene Klienten
zufriedenzustellen, die in dringlichen Angelegenheiten zu mir in die
Sprechstunde kamen. Und dazu trat bald noch ein wichtiges Ereignis: der Zweite
Weltkrieg brach aus. Einige meiner Klubfreunde, die für den Dienst mit der
Waffe zu alt waren, stellten sich dem Luftschutz zur Verfügung, kurz: Als man
zur Zivilverteidigung aufrief, nahm diese all meine Freizeit in Anspruch. Sechs
Jahre lang. Ich wurde Luftschutzwart und tat in meinem Bezirk Westminster
Dienst. Da fast alle meine Angestellten eingerückt waren, mußte ich meine
Kanzlei sozusagen allein führen. Da gab es nie Ferien, und ich schlief in der
ganzen Zeit keine Nacht länger als etwa fünf Stunden. Als 1945 endlich der
Friede kam, war mein Haar weiß, die Hände zittrig, und obwohl sich mein Zustand
in der Folgezeit etwas gebessert hat, bin ich unwiderruflich ein alter Mann.
Eines Nachmittags im Januar 1948
erhielt ich ein Telegramm folgenden Inhalts:
mr. douglas
macfadden letzte nacht leider dahingeschieden.
erbitten
anweisungen für beisetzung.
doyle, pesnion
balmoral, ayr
Ich mußte damals ziemlich lange
überlegen, bis ich unter dem Schutt der Kriegsjahre den Namen Macfadden fand
und mir zur Stütze meines Gedächtnisses die Akten holte, welche die
Einzelheiten enthielten. Zehn Jahre waren seit meinem einzigen Besuch in Ayr
verflossen.
Merkwürdig, daß niemand dort war, der
für die Bestattung sorgen konnte! Ich meldete ein Ferngespräch an und hatte
bald darauf Mrs. Doyle am Apparat. Die Verständigung war schlecht; soviel ich
hören konnte, wußte die Dame nichts von der Familie des Verstorbenen. Offenbar
hatte ihn schon seit längerer Zeit niemand besucht. Es blieb mir nichts übrig,
als selbst nach Ayr zu fahren oder jemand anderen zu schicken. Ich hatte gerade
nichts Wichtiges vor. Die Sache schien mir auch nicht ganz einfach. Ich
besprach sie mit meinem Teilhaber Lester Robinson, räumte meinen Schreibtisch
auf, fuhr nach dem Abendessen mit dem Schlafwagen nach Glasgow und von dort mit
einem Personenzug nach Ayr.
Die Besitzer der «Pension Balmoral»
waren in Trauer; sie trauerten wirklich um den Verstorbenen. Man merkte, sie
hatten den Sonderling gern gehabt. Es war wahrscheinlich ihrer Pflege zu
danken, daß er so lange gelebt hatte. Die Todesursache war eindeutig. Ich
sprach mit dem Arzt, der mir alles genau erzählte. Er war bis zum Ende bei ihm
gewesen; er wohnte in nächster Nähe. Der Totenschein war bereits ausgefertigt.
Zwecks Identifizierung warf ich einen flüchtigen Blick auf die Leiche, um dann
die verschiedenen Formalitäten zu erledigen. Es gab dabei keine
Schwierigkeiten, außer daß kein
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