Eine Studie in Scharlachrot
von einem ungeschickten Imitator, der seine Rolle übertrieben hat. Es war nur eine List, um die Untersuchung in die falschen Kanäle zu lenken. Ich werde Ihnen nicht viel mehr über den Fall erzählen, Doktor. Sie wissen schon: Ein Zauberer bekommt keinen Applaus mehr, wenn er erst seinen Trick verraten hat; und wenn ich Ihnen zu viel von meiner Arbeitsmethode zeige, werden Sie zu dem Schluß kommen, daß ich schließlich doch ein ganz gewöhnliches Individuum bin.«
»Zu diesem Schluß werde ich niemals kommen«, sagte ich. »Sie haben die Detektion einer exakten Wissenschaft so weit angenähert, daß man Sie in dieser Welt nicht mehr übertreffen wird.«
Mein Gefährte errötete vor Freude ob meiner Worte und der ernsthaften Art, in der ich sie vorbrachte. Ich hatte bereits festgestellt, daß er für Schmeicheleien über seine Kunst so empfänglich war, wie nur je ein Mädchen, wenn es um ihre Schönheit geht.
»Ich will Ihnen noch eines sagen«, meinte er. »Der mit den Lacklederschuhen und der mit den eckigen Zehen sind im gleichen Wagen dorthingekommen und den Gartenweg gemeinsam entlanggegangen, in bestmöglicher Freundschaft – höchstwahrscheinlich Arm in Arm. Als sie im Haus waren, sind sie im Raum auf und ab gegangen – genauer, Freund Lackleder ist stehengeblieben, während Freund Quadratzeh auf und ab gegangen ist. Das alles habe ich im Staub lesen können; und ich konnte auch lesen, daß er, während er ging, immer erregter wurde. Die Zunahme seiner Schrittlänge zeigt das. Er hat die ganze Zeit geredet und sich dabei ohne Zweifel in eine Wut hineingesteigert. Dann hat sich die Tragödie ereignet. Jetzt habe ich Ihnen alles gesagt, was ich selbst weiß; alles andere ist lediglich Annahme und Mutmaßung. Wir haben damit aber eine gute Basis, auf der wir weiterarbeiten können. Nun müssen wir uns beeilen; ich möchte nämlich heute nachmittag zu Hallés Konzert gehen, um Lady Norman-Neruda 12 zu hören.«
Dieses Gespräch fand statt, während unser Wagen sich durch eine lange Reihe schmieriger Haupt-und trüber Nebenstraßen wand. In der schmierigsten und trübsten von allen hielt unser Fahrer plötzlich an. »Das ist Audley Court, da drüben«, sagte er; er deutete auf eine schmale Öffnung in der Reihe leichenfarbener Ziegelbauten. »Ich warte hier, bis Sie zurückkommen.«
Audley Court war keine anziehende Gegend. Die enge Passage führte uns auf einen viereckigen Platz, der mit Fliesen gepflastert und von schmutzigen Behausungen umgeben war. Wir bahnten uns einen Weg zwischen Gruppen verdreckter Kinder, bis wir Nummer 46 erreichten; die Tür der Behausung war mit einem kleinen Messingstreifen verziert, auf dem der Name Rance eingraviert stand. Auf unsere Fragen erfuhren wir, daß der Constable zu Bett gegangen war, und man führte uns in ein kleines Vorderzimmer, wo wir auf ihn warteten.
Er erschien alsbald; er wirkte ein wenig unwirsch darüber, daß wir ihn aus dem Schlummer gerissen hatten. »Ich hab’ doch meinen Bericht im Revier abgegeben«, sagte er.
Holmes zog einen halben Sovereign 13 aus der Tasche und spielte nachdenklich damit. »Wir haben uns gedacht, wir sollten besser alles aus Ihrem eigenen Mund hören«, sagte er.
»Ich will Ihnen sehr gern alles sagen, was ich weiß«, antwortete der Constable; seine Augen hingen an der kleinen goldenen Scheibe.
»Dann lassen Sie uns doch einfach alles so hören, wie es sich zugetragen hat.«
Rance ließ sich auf dem Roßhaarsofa nieder und runzelte die Stirn, als sei er entschlossen, bei seiner Erzählung auch nicht das Geringste auszulassen.
»Ich erzähl’s Ihnen von Anfang an«, sagte er. »Meine Schicht geht von zehn Uhr abends bis sechs Uhr morgens. Um elf hat’s ‘ne Schlägerei im White Hart gegeben; aber davon mal abgesehen war auf meiner Runde alles ganz ruhig. Um eins hat’s angefangen zu regnen, und ich hab’ Harry Murcher getroffen – der geht die Runde am Holland Grove –, und wir haben an der Ecke Henrietta Street gestanden und geklönt, ‘n bißchen später – vielleicht so um die zwei oder kurz danach -hab’ ich mir gedacht, ich geh’ noch mal nach der Brixton Road und seh’ da nach dem Rechten. Es war ziemlich schmutzig und einsam. Auf dem ganzen Weg hab’ ich keine Menschenseele getroffen, nur ein oder zwei Droschken sind an mir vorbeigekommen. Wie ich da so langgeh’ und, unter uns gesagt, denk’, wie nett jetzt ‘n Pott heißer Gin war’, seh’ ich plötzlich ‘n Licht im Fenster von dem Haus
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