Eine Studie in Scharlachrot
Letzte Nacht hätten Sie sich Ihre Sergeanten-Streifen verdienen können. Der Mann, den Sie in der Hand hatten, ist der Mann, der den Schlüssel zum ganzen Rätsel hat und den wir suchen. Aber es hat keinen Sinn, jetzt darüber zu streiten; ich sage Ihnen, daß es so ist. Kommen Sie, Doktor.«
Wir machten uns gemeinsam auf den Weg zur Droschke und ließen unseren Informanten ungläubig, aber sichtlich unbehaglich zurück.
»So ein Stümper, ein Narr!« sagte Holmes erbittert, als wir zu unserer Wohnung zurückfuhren. »Man stelle sich vor: So ein unvergleichliches Glück zu haben und es nicht auszunutzen.«
»Mir ist noch immer alles ziemlich dunkel. Es stimmt zwar, daß die Beschreibung dieses Mannes zu der zweiten Person in diesem Rätsel paßt, so wie Sie es geschildert haben. Aber warum sollte er zum Haus zurückkommen, nachdem er es verlassen hat? Das ist doch nicht die Art von Verbrechern.«
»Der Ring, Mann, der Ring: Deshalb ist er zurückgekommen. Wenn wir ihn nicht auf eine andere Weise bekommen, können wir immer noch den Ring als Köder verwenden. Ich werde ihn erwischen, Doktor – ich wette zwei zu eins mit Ihnen, daß ich ihn erwischen werde. Ich muß Ihnen für alles danken. Ohne Sie wäre ich vielleicht nicht hingefahren und hätte so die beste Studie verpaßt, die mir je untergekommen ist: eine Studie in Scharlachrot 15 , eh? Warum sollten wir nicht ein wenig Kunstjargon verwenden? Der scharlachrote Faden des Mordes verläuft durch das farblose Knäuel des Lebens, und unsere Pflicht ist es, ihn zu entwirren, zu isolieren und jeden Zoll davon bloßzulegen. Und jetzt ein Lunch, und danach die Norman-Neruda. Ihr Ansatz und ihre Bogenführung sind prächtig. Wie heißt das nette Ding von Chopin, das sie so großartig spielt: Tra-la-la-lira-lira-lay?«
So lehnte dieser
amateur
-Bluthund sich in der Droschke zurück und trällerte wie eine Lerche vor sich hin, während ich über die vielerlei Seiten des menschlichen Geistes nachdachte.
5. Unsere Annonce führt uns einen Besucher zu
Unsere morgendlichen Anstrengungen waren für meine schwächliche Gesundheit zu viel gewesen, und nachmittags war ich erschöpft. Nachdem Holmes zum Konzert aufgebrochen war, legte ich mich auf das Sofa und versuchte, einige Stunden Schlafes zu finden. Mein Geist war jedoch von allem Vorgefallenen allzu erregt, und die seltsamsten Phantasien und Vermutungen drängten sich in meinem Kopf. So oft ich meine Augen schloß, sah ich die verzerrte, pavianische Fratze des Ermordeten vor mir. Der Eindruck dieses Gesichts war so unheimlich, daß es mir schwerfiel, für den, der den Besitzer dieses Gesichts aus der Welt geschafft hatte, etwas anderes als Dankbarkeit zu empfinden. Wenn es jemals menschliche Züge gegeben hat, die von Laster der bösartigsten Sorte sprachen, dann sicher die von Enoch J. Drebber aus Cleveland. Dennoch sah ich ein, daß Gerechtigkeit geübt werden mußte und daß die Verworfenheit des Opfers in den Augen des Gesetzes keine Entschuldigung darstellt.
Je länger ich darüber nachdachte, desto außergewöhnlicher erschien mir die Hypothese meines Gefährten, derzufolge der Mann vergiftet worden war. Ich erinnerte mich, wie Holmes an den Lippen des Toten gerochen, und ich zweifelte nicht daran, daß er etwas entdeckt hatte, was ihm diese Idee eingab. Und wenn es nicht Gift war, was hätte dann den Tod des Mannes verursachen können, da es ja weder eine Wunde noch Würgemale gab? Andererseits jedoch: Wessen war die große Menge Blutes, die sich auf dem Boden gefunden hatte? Es gab weder Anzeichen für einen Kampf noch hatte das Opfer eine Waffe besessen, mit der ein Gegner hätte verwundet werden können. Solange all diese Fragen ungelöst waren, dachte ich, würde es weder für Holmes noch für mich einfach sein, Schlaf zu finden. Sein ruhiges, selbstsicheres Verhalten überzeugte mich, daß er bereits eine Theorie aufgestellt hatte, die alle Tatsachen erklärte, doch in keiner Weise vermochte ich zu erschließen, wie diese Theorie aussehen mochte.
Er kam sehr spät zurück – so spät, daß ich wußte, daß nicht das Konzert ihn die ganze Zeit aufgehalten haben konnte. Das Abendessen stand auf dem Tisch, ehe er erschien.
»Es war großartig«, sagte er, während er sich niederließ. »Erinnern Sie sich an das, was Darwin über Musik sagt? Er behauptet, die Fähigkeit, sie hervorzubringen und zu schätzen, sei der menschlichen Rasse längst eigen gewesen, bevor die Sprache gemeistert wurde. Vielleicht
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