Eine Studie in Scharlachrot
zwei Spuren hinterlassen hat. Nun haben wir aber bis letzte Nacht seit einer Woche keinen Regen gehabt, also müssen diese Räder, die einen so tiefen Abdruck hinterlassen haben, während der Nacht dort gewesen sein. Außerdem waren dort auch die Spuren der Hufe des Pferds, und eine davon war viel deutlicher abgezeichnet als die anderen drei, was beweist, daß das Hufeisen neu ist. Da der Wagen dort war, nachdem es angefangen hatte zu regnen, aber zu keiner Zeit heute morgen – dafür habe ich Gregsons Wort –, ist zu folgern, daß er in der Nacht dort war, und folglich auch, daß er diese beiden Individuen zu dem Haus gebracht hat.«
»Das klingt einfach genug«, sagte ich. »Aber was ist mit der Körpergröße des anderen Mannes?«
»Also, in neun von zehn Fällen läßt sich die Größe eines Mannes an der Länge seiner Schritte erkennen. Es ist ganz einfach, das auszurechnen, aber wozu sollte ich Sie mit Zahlen langweilen? Die Schritte dieses Burschen habe ich sowohl draußen auf dem Lehmboden als auch drinnen im Staub gesehen. Dann bot sich mir noch die Möglichkeit, meine Berechnung zu überprüfen. Wenn jemand etwas an eine Wand schreibt, dann tut er das instinktiv etwa in Augenhöhe. Und diese Schrift war genau sechs Fuß über dem Boden. Es war kinderleicht.«
»Und sein Alter?« fragte ich.
»Nun, wenn ein Mann ohne die geringste Mühe Schritte macht, die viereinhalb Fuß lang sind, dann kann er noch nicht welk und verdorrt sein. Genau das war die Breite einer Pfütze auf dem Gartenweg, die er offensichtlich mit einem Schritt überstiegen hat. Jemand mit Lacklederstiefeln war um die Pfütze herumgegangen, und unser Freund mit den viereckigen Schuhen darüber hinweg. Das alles ist absolut nicht rätselhaft. Ich wende lediglich einige der von mir in diesem Artikel aufgestellten Regeln für das Beobachten und Deduzieren auf das gewöhnliche Leben an. Gibt es da noch mehr, das Ihnen Kopfzerbrechen macht?«
»Die Fingernägel und die Trichinopoly«, sagte ich.
»Die Schrift auf der Wand stammte vom Zeigefinger eines Mannes, in Blut getaucht. Mit Hilfe meiner Lupe konnte ich sehen, daß der Putz dabei leicht verkratzt worden ist, was nicht der Fall sein könnte, wenn die Nägel des Mannes kurz geschnitten wären. Vom Boden habe ich ein wenig verstreute Asche aufgelesen. Sie war dunkel und flockig – nur eine Trichinopoly wird zu solcher Asche. Ich habe Zigarrenasche einem besonderen Studium unterzogen – nebenbei, ich habe eine Monographie über dieses Thema geschrieben. Ich schmeichle mir, daß ich mit einem Blick die Asche jeder handelsüblichen Zigarre und jeden Pfeifentabaks erkennen kann. Es sind genau diese Einzelheiten, in denen sich ein geübter Detektiv von der Sorte Gregson und Lestrade unterscheidet.«
»Und das blühende Aussehen?«
»Ach, das war eine etwas kühnere Mutmaßung, obwohl ich nicht daran zweifle, daß ich recht habe. Danach dürfen Sie mich aber beim augenblicklichen Stand der Angelegenheit nicht fragen.«
Ich fuhr mir mit der Hand über die Stirn. »Mein Kopf ist ein einziges Durcheinander«, bemerkte ich. »Je mehr man darüber nachdenkt, desto mysteriöser wird alles. Wie sind diese beiden Männer – wenn es denn zwei Männer waren – in ein leeres Haus gekommen? Was ist aus dem Kutscher geworden, der sie gefahren hat? Wie kann jemand einen anderen dazu zwingen, Gift zu nehmen? Woher stammt das Blut? Was war das Ziel des Mörders, da ja offenbar Diebstahl keine Rolle dabei gespielt hat? Wie kommt dieser Frauenring dorthin? Und vor allem: Warum sollte der zweite Mann das deutsche Wort RACHE hinschreiben, bevor er sich aus dem Staub macht? Ich muß gestehen, daß ich keine Möglichkeit sehen kann, all diese Tatsachen miteinander zu verbinden.«
Mein Gefährte lächelte zustimmend. »Sie fassen da alle Schwierigkeiten der Situation bündig und sauber zusammen«, sagte er. »Vieles ist noch dunkel, wenn ich auch mein Urteil über die wichtigsten Tatsachen abgeschlossen habe. Was die Entdeckung des armen Lestrade angeht – das ist nur ein Hinweis, der die Polizei auf eine falsche Fährte locken soll, indem er Sozialismus und Geheimgesellschaften andeutet. Wie Sie bemerkt haben werden, ist das A in einer Druckschrift gehalten, die ein wenig an deutschen Fraktursatz erinnert. Ein richtiger Deutscher verwendet aber, wenn er ›druckt‹, unweigerlich die lateinischen Buchstaben; wir können also sicher festhalten, daß dies nicht von einem Deutschen geschrieben wurde, sondern
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