Eine Studie in Scharlachrot
»Ich gehe ihr nach«, sagte er hastig. »Sie muß eine Komplizin sein und wird mich zu ihm fuhren. Bleiben Sie wach, bis ich zurück bin.« Die Haustür war kaum hinter unserer Besucherin ins Schloß gefallen, da lief Sherlock Holmes auch schon die Treppe hinunter. Als ich aus dem Fenster blickte, konnte ich sie sehen, wie sie hinfällig auf der gegenüberliegenden Straßenseite ging, während ihr Verfolger ihr mit geringem Abstand auf den Fersen blieb. ›Entweder ist seine ganze Theorie falsch‹, dachte ich bei mir, ›oder sie führt ihn jetzt zum Kern des Rätsels.‹ Er hätte mich nicht auffordern müssen, wach zu bleiben, denn ich wußte, daß ich nicht würde schlafen können, ehe ich nicht das Ergebnis seines Abenteuers kannte.
Als er aufbrach, war es kurz vor neun Uhr. Ich wußte nicht, wie lange er ausbleiben würde; ich saß jedoch gleichmütig dort, sog an meiner Pfeife und überflog die Seiten von Henri Murgers
Vie de Bohème.
18 Zehn Uhr war vorbei, und ich hörte die Trappelschritte des Mädchens, das zu, Bett ging. Elf, und der gemessenere Schritt der Wirtin passierte meine Tür, mit nämlichem Ziel. Es war kurz vor zwölf, als ich das helle Klirren seines Türschlüssels hörte. Im Augenblick, da er eintrat, sah ich an seinem Gesicht, daß er keinen Erfolg gehabt hatte. Vergnügen und Bekümmerung schienen um die Herrschaft über ihn zu streiten, aber dann gewann ersteres die Oberhand, und er brach in ein herzliches Gelächter aus.
»Die Scotland-Yard-Leute dürfen um alles in der Welt nichts davon erfahren«, rief er; er ließ sich in seinen Sessel fallen. »Ich habe sie so oft aufgezogen, daß sie bis ans Ende aller Tage davon reden würden. Ich kann es mir aber leisten zu lachen, weil ich weiß, daß ich
à la longue
mit ihnen gleichziehen werde.«
»Was ist denn nun geschehen?« fragte ich.
»Ach, es macht mir nichts aus, eine Geschichte zu erzählen, die gegen mich spricht. Diese Kreatur war noch nicht weit gegangen, da hat sie angefangen zu hinken und war allem Anschein nach fußkrank. Bald ist sie stehengeblieben und hat eine Droschke angehalten, die vorbeikam. Ich hatte es fertiggebracht, nah bei ihr zu sein, damit ich die Adresse hören konnte, aber ich hätte mir nicht so viel Mühe zu machen brauchen, sie hat sie nämlich laut genug gerufen, man hätte es auf der anderen Straßenseite hören können: ›Fahren Sie zu Nr. 13, Duncan Street, Houndsditch.‹ Das hat sie gerufen. Ich dachte, das fängt ja an, echt auszusehen, und als ich sicher war, daß sie im Wagen saß, bin ich hinten aufgesessen. Das ist eine Kunst, in der jeder Detektiv Experte sein sollte. Na ja, wir rattern also los und halten nicht an, bevor wir die fragliche Straße erreicht haben. Ich bin abgesprungen, ehe wir zum Haus kamen, und bin die Straße hinuntergeschlendert. Ich habe den Wagen halten sehen. Der Fahrer ist abgesprungen, ich sehe, wie er die Tür öffnet und erwartungsvoll dasteht. Aber nichts ist herausgekommen. Als ich ihn erreiche, wühlt er wie wild in der leeren Kabine herum und macht sich Luft mit der feinsten assortierten Sammlung von Flüchen, die ich je gehört habe. Sein Passagier war weder zu sehen noch waren Spuren zu finden, und ich fürchte, es wird eine Weile dauern, bis der Fahrer den Fahrpreis erhält. Als wir uns in Nr. 13 erkundigt haben, stellten wir fest, daß das Haus einem ehrbaren Tapezierer namens Keswick gehört und daß man dort niemanden namens Sawyer oder Dennis kennt.«
»Sie wollen doch nicht etwa sagen«, rief ich verblüfft, »daß diese tatterige, schwache alte Frau imstande war, auszusteigen, während die Droschke fuhr, und daß weder Sie noch der Fahrer sie gesehen haben?«
»Alte Frau – zum Teufel!« sagte Sherlock Holmes schroff. »Wir waren alte Weiber, daß man uns so hereingelegt hat. Es muß ein junger Mann gewesen sein, körperlich tüchtig dazu, abgesehen davon, daß er ein unvergleichlicher Schauspieler ist. Die Aufmachung war unnachahmlich. Er hat zweifellos bemerkt, daß er verfolgt wurde, und dann hat er sich auf diese Weise aus dem Staub gemacht. Das beweist, daß der Mann, hinter dem wir her sind, nicht so einsam ist, wie ich angenommen hatte, sondern Freunde hat, die bereit sind, für ihn etwas zu riskieren. Doktor, Sie sehen ganz erledigt aus. Hören Sie auf meinen Rat und legen Sie sich hin.«
Ich fühlte mich allerdings sehr müde, also befolgte ich seine Anweisung. Ich ließ Holmes vor dem schwelenden Feuer zurück, und bis spät in die Nacht
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